Ralph verspürte einen Anflug schwindliger Desorientierung, brachte ihn aber mühsam unter Kontrolle. Er öffnete die Handfläche und rechnete fast damit, daß der Ring trotz allem, was seine Sinneswahrnehmung ihm verriet, nicht mehr da sein würde, aber er lag immer noch auf seiner Handfläche und bedeckte die Gabelung, wo Ralphs Liebes-und Lebenslinie sich kreuzten, und er glomm im häßlichen roten Licht dieses verabscheuungswürdigen Ortes. HD - ED 5.8.87. Die beiden Ringe waren identisch.
Einer in seiner Hand; einer auf dem Boden; absolut kein Unterschied. Zumindest keinen, den Ralph erkennen konnte.
Lois griff nach dem Ring, der anstelle des anderen dalag, den Ralph genommen hatte, zögerte und hob ihn auf. Vor ihren Augen erschien ein goldenes Leuchten auf dem Boden der Kammer und verfestigte sich zu einem dritten Ehering. Wie bei den anderen, war HD - ED 5. 8.1987 auf der Innenseite eingraviert.
Ralph mußte wieder an eine Geschichte denken - nicht an Tolkiens Geschichte vom Ring, sondern an ein Märchen von Dr. Seuss, das er in den fünfziger Jahren einer von Carolyns Nichten vorgelesen hatte. Das war lange her, aber er hatte das Märchen nie ganz vergessen, da es einprägsamer und dunkler als Dr. Seuss’ sonstiger Unsinn von Ratten und Fledermäusen und aufmüpfigen Katzen gewesen war. Es trug den Titel The 500 Hats of Bartholomew Cubbins, und Ralph nahm an, daß es kein Wunder war, wenn ihm dieses Märchen gerade jetzt einfiel.
Der arme Bartholomew war ein Bauerntölpel, der das Pech hatte, sich gerade in der Stadt aufzuhalten, als der König vorbeikam. Man mußte den Hut vor seiner Königlichen Hoheit abnehmen, und Bartholomew hatte es wirklich versucht, aber jedesmal, wenn er den Hut abnahm, erschien ein anderer darunter, der genauso aussah.
[»Ralph, was ist hier los? Was hat das zu bedeuten?«]
Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten, und sah von dem Ring auf seiner Handfläche zu dem in Lois Hand und zu dem auf dem Boden, immer wieder im Kreis herum. Drei Ringe, alle identisch, genau wie die Hüte, die Bartholomew Cubbins hatte abziehen wollen. Der arme Junge hatte immer noch versucht, dem König die Ehre zu erweisen, erinnerte sich Ralph, als der Henker ihn eine Treppe zu der Stelle hinauf führte, wo er wegen Respektlosigkeit geköpft werden sollte…
Aber das war nicht richtig, denn nach einer Weile veränderten sich die Hüte auf dem Kopf des armen Bartholomew doch, sie wurden immer ausgefallener und barocker.
Sind die Ringe identisch, Ralph? Bist du sicher?
Nein, das war er nicht. Als er den ersten aufgehoben hatte, hatte er einen kurzen, vorübergehenden Schmerz verspürt, der sich wie Rheuma in seinem Arm ausgebreitet hatte, aber Lois schien keine Schmerzen empfunden zu haben, als sie den zweiten aufhob.
Und die Stimmen - ich habe sie nicht jubilieren gehört, als sie den zweiten aufgehoben hat.
Ralph beugte sich nach vorne und hob den dritten Ring auf. Er spürte keinen Schmerz und hörte keinen Jubelruf der Gegenstände, die die Mauern dieser Kammer bildeten - sie sangen einfach leise weiter. Derweil materialisierte sich ein vierter Ring an der Stelle, wo die anderen drei gelegen hatten, genau wie ein weiterer Hut auf dem Kopf des armen Bartholomew Cubbins, aber Ralph würdigte ihn kaum eines Blickes. Er betrachtete den ersten Ring, der auf seiner rechten Hand auf dem Schnittpunkt seiner Lebens-und Liebeslinie lag.
Ein Ring, sie zu knechten, dachte er. Sie alle zu binden. Und ich glaube, das bist du, mein Süßer. Die anderen sind nur geschickte Fälschungen.
Möglicherweise gab es eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Ralph hielt die beiden Ringe an seine Ohren. Der in der linken Hand war stumm; der andere, der in der rechten, der in dem Leichentuch gewesen war, das Ralph aufgeschnitten hatte, wiederholte ein schwaches, unheimliches Echo vom letzten Aufschrei des Leichentuchs.
Der in seiner rechten Hand lebte.
[»Ralph?«]
Ihre Hand auf seinem Arm, kalt und drängend. Ralph sah sie an, dann warf er den Ring in der linken Hand weg. Er hielt den in der rechten Hand hoch und betrachtete Lois’ angespanntes, seltsam jugendliches Gesicht durch ihn hindurch wie durch ein Teleskop.
[»Das ist der richtige. Die anderen sind nur Platzhalter, glaube ich - wie Nullen in einem komplizierten mathematischen Problem.«]
[»Du meinst, sie zählen nicht?«]
Er zögerte, da er nicht wußte, wie er antworten sollte… denn sie zählten doch, das war das Merkwürdige. Er wußte nur nicht, wie er dieses intuitive Wissen in Worte kleiden sollte. So lange der falsche Ring immer wieder in diesem Zimmer auftauchte wie die Hüte auf dem Kopf von Bartholomew Cubbins, blieb die Zukunft, die von dem Leichentuch über dem Bürgerzentrum repräsentiert wurde, die einzig wahre Zukunft. Aber der erste Ring, den Atropos Ed tatsächlich vom Finger gestohlen hatte (möglicherweise als er neben Helen in dem kleinen Cape-Cod-Haus geschlafen hatte, das jetzt leerstand), der konnte alles verändern.
Die Nachbildungen waren Platzhalter, die die Form des Ka erhielten, so wie Speichen, die von einer Nabe ausgingen, die Form des Rads erhielten. Aber das Original…
Ralph dachte, das Original war die Nabe: ein Ring, sie zu binden.
Er hielt den Goldreif fest in der Hand und spürte, wie die Kante sich in seine Finger und die Handfläche grub. Dann ließ er ihn in seiner Uhrtasche verschwinden.
Eines am Ka haben sie uns nicht erzählt, dachte er. Es ist schlüpfrig. Schlüpfrig wie ein böser alter Fisch, der sich nicht vom Haken losmachen lassen will, sondern einem in der Hand herumschnalzt.
Und es war auch, als würde man eine Sanddüne hinaufklettern
- für zwei Schritte, die man vorwärts schaffte, rutschte man einen zurück. Sie waren nach High Ridge gegangen und hatten etwas erreicht - was genau, das wußte Ralph nicht, aber Dorrance hatte ihnen versichert, daß es so war; ihm zufolge hatten sie ihre Aufgabe dort erfüllt. Jetzt waren sie hierher gekommen und hatten Eds Souvenir zurückgeholt, aber das reichte immer noch nicht aus, und warum? Weil Ka wie ein Fisch war, weil Ka wie eine Sanddüne war, weil Ka wie ein Rad war, das nicht stehenbleiben, sondern sich immer weiter und weiter drehen wollte, um alles zu zerquetschten, was sich in seinem Weg befand. Ein Rad mit vielen Speichen.
Aber am allermeisten war Ka wahrscheinlich wie ein Ring.
Wie ein Trauring.
Plötzlich begriff er, was das lange Gespräch auf dem Dach des Krankenhauses und Dorrance’ Versuche, es zu erklären, nicht vermitteln konnten: Eds unbestimmter Status und die Tatsache, daß Atropos den armen, verwirrten Mann aufgespürt hatte, hatten ihn mit einer ungeheuren Macht ausgestattet. Eine Tür war aufgegangen, und ein Dämon, der der Scharlachrote König genannt wurde, war herausgekommen - einer, der mächtiger war als Klotho, Lachesis, Atropos, als alle drei zusammen. Und der hatte nicht die Absicht, sich von einem von Derrys Altvorderen wie Ralph Roberts aufhalten zu lassen.
[»Ralph?«]
[»Ein Ring, sie zu knechten, Lois - sie alle zu finden.«]
[»Wovon redest du? Was meinst du damit?«]
Er klopfte auf seine Uhrtasche und spürte die winzige, aber unendlich bedeutsame Wölbung von Eds Ring. Dann streckte er die Hände aus und packte Lois an den Schultern.
[ »Die Ersatzstücke - die falschen Ringe - sind Speichen, aber der hier ist die Nabe. Nimm die Nabe weg, und ein Rad kann sich nicht mehr drehen.«]
[»Bist du sicher?«]
Er war ganz sicher. Er wußte nur nicht, wie er es anstellen sollte.
[»Ja. Komm jetzt - verschwinden wir von hier, solange wir es noch können.«]
Ralph ließ sie zuerst unter dem vollbeladenen Eßzimmertisch durchkriechen, dann ging er in die Knie und folgte ihr. Auf halbem Weg hielt er inne und sah noch einmal über die Schulter. Er sah etwas Seltsames und Schreckliches: Das summende Geräusch hatte sich nicht wieder eingestellt, aber ein neues Leichentuch entstand um den Ersatzehering herum. Das glänzende Gold war bereits zu einem geisterhaften Reif geworden, der wie eine winzige Sonne hinter einer dichten Smogschicht aussah.