Seid eine Schere, dachte er. Ich brauche eine Schere. Helft mir.
Nichts. Er sah zu Lois und stellte fest, daß sie ihn mit einer gelassenen Ruhe betrachtete, die irgendwie beängstigend war. O Lois, wenn du nur wüßtest, dachte er, aber dann verdrängte er den Gedanken aus seinem Kopf. Denn er hatte etwas gespürt, oder nicht? Etwas.
Diesmal ließ er keine Worte in seinem Geist entstehen, sondern ein Bild: Nicht die Schere, mit der Klotho Jimmy V. in die nächste Welt geschickt hatte, sondern die Schere aus Edelstahl aus dem Nähkörbchen seiner Mutter - lange, schmale Scherenblätter, die fast so spitz zuliefen wie ein Messer. Als er sich stärker konzentrierte, konnte er sogar zwei winzige Worte erkennen, die dicht über dem Angelpunkt in den Stahl eingraviert waren: SHEFFIELD STEEL. Und jetzt konnte er dieses Gefühl wieder in seinem Geist spüren, diesmal allerdings kein Blinzeln, sondern das langsame Spannen eines Muskels - eines unvorstellbar kräftigen Muskels. Dabei klappte er langsam die Finger auf und zu und bildete ein V, das enger und breiter wurde.
Jetzt konnte er die Energie spüren, die er dem Nirvana-Jungen und dem Penner beim Bahnhof abgenommen hatte, wie sie sich erst in seinem Kopf sammelte und dann wie ein seltsamer Krampf an der rechten Hand hinunter in die ausgestreckten Finger floß.
Die Aura um die ausgestreckten Zeige-und Mittelfinger seiner Hand wurde dicker… und länger. Nahm die schlanke Form von Schneiden an. Ralph wartete, bis sie etwa zwölf Zentimeter über seine Fingernägel hinausragte, dann bewegte er die Finger wieder auf und ab. Die Schere öffnete und schloß sich.
[»Los, Ralph! Tu es!«]
Ja - er konnte es sich nicht leisten, Zeit mit Experimenten zu verplempern. Er fühlte sich wie eine Autobatterie, die einen viel zu großen Motor anlassen muß. Er konnte spüren, wie seine ganze Energie - die, die er genommen hatte, und seine eigene -seinen rechten Arm hinunter in diese Schneide floß. Es würde nicht lange halten.
Er beugte sich nach vorne, preßte die Finger zu einer Zeigegeste zusammen, und bohrte die Spitze der Schere in das Leichentuch. Er hatte sich so sehr darauf konzentriert, die Schere zu erschaffen und zu erhalten, daß er das konstante, heisere Summen gar nicht mehr gehört hatte -jedenfalls nicht bewußt -, aber als die Scherenspitze sich in die schwarze Haut bohrte, schwoll der Laut des Leichentuchs plötzlich zu neuen Höhen eines zugleich schmerzerfüllten und erschrockenen Kreischens an. Ralph sah Rinnsale einer dicken, dunklen Gallertmasse aus dem Tuch auf den Boden fließen. Es sah aus wie ein krankhafter Auswurf. Gleichzeitig spürte er, wie sich der Energiefluß in ihm ungefähr verdoppelte. Er stellte fest, daß er es sogar sehen konnte: Seine eigene Aura wallte in langsamen peristaltischen Bewegungen den rechten Arm und Handrücken entlang. Und er konnte spüren, wie sie um den Rest des Körpers herum immer dünner wurde und seinen lebenswichtigen Schutz verdünnte.
[»Beeil dich, Ralph! Beeil dich!«]
Er unternahm eine gewaltige Anstrengung und spreizte die Finger. Die schimmernden blauen Scherenblätter klappten ebenfalls auf und hinterließen einen kleinen Schlitz in dem schwarzen Ei. Es schrie, und zwei gezackte rote Blitze sausten über die Oberfläche. Ralph führte die Finger zusammen und sah, wie die Schere, die aus ihnen wuchs, wieder zuschnappte und in die dicke schwarze Substanz schnitt, die teilweise Schale und teilweise Fleisch war. Er schrie auf. Er verspürte nicht gerade Schmerzen, sondern eher ein Gefühl schrecklicher Erschöpfung. So muß man sich fühlen, wenn man verblutet, dachte er.
Etwas im Innern des Leichentuchs erstrahlte in goldenem Glanz.
Ralph nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, die Finger zu einem weiteren Schnitt zu öffnen. Zuerst glaubt er nicht, daß es ihm gelingen würde - aber dann klappten sie auseinander und vergrößerten den Schlitz. Jetzt konnte er den Gegenstand im Inneren fast erkennen, etwas Kleines und Rundes und Glänzendes. Im Grunde genommen kann es eigentlich nur eines sein, dachte er, und dann spürte er, wie sein Herz plötzlich in der Brust flatterte. Die blauen Scherenblätter flackerten.
[»Lois! Hilf mir!«]
Sie umklammerte sein Handgelenk. Ralph spürte, wie gewaltige Voltzahlen frischer Energie in ihn fuhren. Er beobachtete erstaunt, wie die Schere wieder fester wurde. Jetzt war nur noch eines der Scherenblätter blau. Das andere war perlmuttfarben.
Lois, in seinem Kopf kreischend: [»Schneid es auf! Schneid es jetzt auf!«]
Er preßte die Finger wieder zusammen, und diesmal schnitt die Schere das Leichentuch weit auf. Es stieß einen letzten, röchelnden Schrei aus, dann wurde es ganz rot und verschwand. Die Schere, die aus Ralphs Fingerspitzen wuchs, löste sich flackernd auf. Er schloß die Augen einen Moment und merkte plötzlich, daß große, warme Schweißperlen wie Tränen an seinen Wangen hinabliefen. Im dunklen Feld hinter seinen Lidern konnte er irre Bilder sehen, die wie tanzende Scherenblätter wirkten.
[»Lois? Alles in Ordnung?«]
[»Ja… aber ich bin kaputt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich zu dieser Treppe unter dem Baum zurückkommen soll, vom Hochklettern ganz zu schweigen. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich aufstehen kann.«]
Ralph machte die Augen auf, stemmte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und beugte sich wieder nach vorne. Auf dem Boden, wo das Leichentuch gewesen war, lag der Ehering eines Mannes. Er konnte mühelos lesen, was im Inneren eingraviert war: HD - ED 5.8.87.
Helen Deepneau und Edward Deepneau. Geheiratet am 5. August 1987.
Darum waren sie gekommen. Das war das Souvenir von Ed. Er mußte es nur noch aufheben… in die Hosentasche stecken… Lois’ Ohrringe suchen… und zusehen, daß sie sich aus dem Staub machten.
Als er nach dem Ring griff, kam ihm ein Gedicht in den Sinn diesmal nicht von Stephen Dobyns, sondern von J.R.R. Tolkien, der die Hobbits erfunden hatte, an die Ralph zum letztenmal in Lois gemütlichem Wohnzimmer mit seinen vielen Bildern hatte denken müssen. Es war fast dreißig Jahre her, seit er Tolkiens Geschichte von Frodo und Gandalf und Sauron, dem dunklen Herrscher, gelesen hatte - eine Geschichte, in der es um einen ganz ähnlichen Gegenstand wie diesen ging, wenn man es genauer betrachtete -, aber die Verse waren im Moment so deutlich wie die Schere vor wenigen Augenblicken:
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden Im Lande Mordor, wo die Schatten dröhnen.
Ich werde ihn nicht aufheben können, dachte er. Er wird so fest an das Rad des Ka gebunden sein wie Lois und ich, und ich werde ihn nicht aufheben können. Entweder das, oder es wird sein, als würde ich ein Starkstromkabel anfassen, und ich werde tot sein, ehe ich weiß, wie mir geschieht.
Aber er glaubte eigentlich nicht, daß es dazu kommen würde. Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum war dieser dann durch das Leichentuch geschützt worden? Wenn er den Ring nicht nehmen sollte, warum hatten die Mächte hinter Klotho und Lachesis - und Dorrance, Dorrance durfte er nicht vergessen -ihn und Lois dann überhaupt erst auf diese Reise geschickt?
Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden, dachte Ralph und schloß die Finger um Eds Trauring. Einen Augenblick verspürte er einen stechenden, gläsernen Schmerz in Hand, Handgelenk und Unterarm; im selben Augenblick schwollen die leise singenden Stimmen der Gegenstände, die Atropos hier gehortet hatte, zu einem lauten, harmonischen Ruf an.
Ralph stieß einen Laut aus - möglicherweise einen Schrei, möglicherweise nur ein Stöhnen -, hob den Ring hoch und hielt ihn fest in der rechten Hand. Ein Gefühl des Triumphs sang in seinen Adern wie Wein, oder wie -
[»Ralph.«]
Er sah sie an, aber Lois betrachtete die Stelle, wo Eds Ring gewesen war, und eine Mischung aus Angst und Verwirrung umwölkte ihre Augen.
Wo Eds Ring gewesen war; wo Eds Ring immer noch war. Er lag genau da, wo er gelegen hatte, ein glänzender goldener Kreis, in den HD - ED 5.8.87 eingraviert war.