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Vor ihnen machte die Straße eine scharfe Rechtskurve. Gegen jeden Instinkt machte Ralph keinerlei Anstalten zu bremsen. Er nahm den Fuß vom Gas, als sie in die Kurve rasten… dann trat er das Pedal wieder durch, als er spürte, wie der Wagen hinten wegschmieren wollte. Er saß jetzt über das Lenkrad gekauert, biß sich mit den oberen Zähnen fest auf die Unterlippe, und die weit aufgerissenen Augen quollen ihm unter den buschigen Brauen fast aus den Höhlen. Die Hinterreifen der Limousine quietschten, und Lois, die verzweifelt an der Rückenlehne des Sitzes Halt suchte, kippte gegen ihn. Ralph klammerte sich mit verschwitzten Fingern an das Lenkrad und wartete darauf, daß der Wagen sich überschlagen würde. Der Olds war jedoch eines der letzten wahren Straßenungeheuer aus Detroit, breit und schwer und tiefliegend. Er schaffte es durch die Kurve, und auf der anderen Seite sah Ralph links ein rotes Farmhaus. Zwei Scheunen standen dahinter.

»Ralph, da ist die Abzweigung!«

»Ich sehe sie.«

Die neue Kolonne von Polizeiautos hatte sie eingeholt und scherte zum Überholen aus. Ralph fuhr so weit rechts, wie er konnte, und hoffte, daß keiner der Streifenwagen ihn bei dieser Geschwindigkeit streifen würde. Nichts passierte; sie sausten in dichter Formation vorbei, fast Stoßstange an Stoßstange, bogen links ab und den langgezogenen Hügel hinauf, der zu High Ridge führte.

»Festhalten, Lois.«

»Oh, das tue ich, das tue ich«, sagte sie. »Ich halte mich fest wie verrückt.«

Der Olds schlitterte fast seitwärts weg, als Ralph auf die Straße nach links bog, die er und Carolyn stets Orchard Road genannt hatten. Wäre der schmale Feldweg geteert gewesen, wäre das große Automobil wahrscheinlich umgekippt wie ein Stuntwagen in einer Motorshow. Aber sie war nicht geteert, und daher überschlug sich der Olds nicht, sondern rutschte nur wie wild und wirbelte Staubwolken auf. Lois stieß einen schrillen, atemlosen Schrei aus, und Ralph warf ihr einen raschen Blick zu.

»Fahr zu!« Sie deutete ungeduldig auf die Straße vor ihnen, und in diesem Augenblick sah sie Carolyn auf so unheimliche Weise ähnlich, daß Ralph fast glaubte, er hätte ein Gespenst neben sich sitzen. Er fragte sich, was Carolyn, die in ihren letzten fünf Lebensjahren fast eine Weltanschauung daraus gemacht hatte, ihm zu sagen, daß er schneller fahren sollte, von dieser kleinen Spritztour aufs Land gehalten hätte. »Nimm keine Rücksicht auf mich, achte auf die Straße!«

Jetzt bogen noch mehr Polizeiautos auf die Orchard Road ab. Wie viele waren es insgesamt? Ralph wußte es nicht; er hatte den Überblick verloren. Möglicherweise alles in allem ein Dutzend. Er steuerte den Olds nach rechts bis die beiden äußeren Reifen am Rand eines gefährlich aussehenden Straßengrabens dahinrollten, und die Verstärkung - drei Streifenwagen mit der goldenen Aufschrift DERRY POLICE auf den Seiten - rauschte vorbei und wirbelte erneute Schauer von Staub und Kies auf. Einen Augenblick sah Ralph einen uniformierten Polizisten, der sich aus einem der Streifenwagen lehnte und ihm zuwinkte, und dann verschwand der Olds in einer gelben Staubwolke. Ralph kämpfte den erneuten und stärkeren Impuls nieder, auf die Bremse zu treten, indem er an Helen und Nat dachte. Einen Augenblick später konnte er wieder sehen - jedenfalls mehr oder weniger. Die letzte Staffel Polizeiautos war schon fast halb den Hügel hinauf.

»Dieser Cop hat dich zurückgewunken, oder?« fragte Lois.

»Klar.«

»Sie werden uns nicht einmal in die Nähe lassen.« Sie sah den schwarzen, schmierigen Fleck auf dem Hügel mit großen, betroffenen Augen an.

»Wir werden so nahe rankommen wie nötig.« Ralph sah in den Rückspiegel nach weiteren Fahrzeugen, konnte aber nur noch schwebenden Straßenstaub erkennen.

»Ralph?«

»Was?« »Bist du oben? Siehst du die Farben?«

Er sah sie kurz an. Sie sah immer noch wunderschön aus, und unfaßbar jugendlich, aber von einer Aura war keine Spur zu sehen. »Nein«, sagte er. »Du?«

»Ich weiß nicht. Das da sehe ich immer noch.« Sie deutete durch die Windschutzscheibe auf den dunklen Fleck über dem Hügel. »Was ist das? Wenn es kein Leichentuch ist, was dann?«

Er machte den Mund auf, um in Worte zu fassen, was sie auf einer bestimmten Ebene bereits wissen mußte - es war Rauch, und da oben konnte höchstwahrscheinlich nur eines brennen -, aber bevor er ein Wort sagen konnte, ertönte ein gewaltiger, überhitzter Knall aus dem Motorblock des Oldsmobile. Die Haube erzitterte und wölbte sich sogar an einer Stelle, als hätte eine Faust wütend von innen dagegen geschlagen. Das Auto schnellte einmal ruckartig vorwärts, was sich wie ein Schluckauf anfühlte; die roten Warnlichter gingen an, und der Motor starb ab.

Er steuerte den Olds an die weiche Böschung, und als der Rand unter den rechten Reifen nachgab und das Auto in den Graben kippte, verspürte Ralph die deutliche, klare Vorahnung, daß er gerade seine letzte Dienstfahrt als Betreiber eines Motorfahrzeugs hinter sich gebracht hatte. Bei diesem Gedanken verspürte er nicht das geringste Bedauern.

»Was ist passiert?« fragte Lois mit einem Anflug von Hysterie.

»Kolbenfresser«, sagte er. »Sieht aus, als müßten wir den Rest des Weg auf Schusters Rappen zurücklegen, Lois. Steig auf meiner Seite aus, damit du nicht im Schlamm versinkst.«

Eine frische Brise wehte von Westen, und als sie aus dem Auto ausgestiegen waren, nahmen sie den Geruch von Rauch, der von der Hügelkuppe herunterwehte, deutlich wahr. Die letzten fünfhundert Meter legten sie zurück, ohne darüber zu sprechen, sie gingen Hand in Hand, und sie gingen schnell. Als sie den Streifenwagen sahen, der quer über die Straße stand, stiegen ganze Rauchwolken über den Bäumen auf, und Lois rang keuchend nach Luft.

»Lois? Alles in Ordnung?«

Plötzlich überkam ihn die gräßliche Erinnerung an das Bild, das Lachesis ihnen in dem Fächer aus Licht zwischen seinen Fingern gezeigt hatte: Bill McGovern, der zuerst hinter dem Mann mit der pflaumenfarbenen Aura zurückblieb und sich dann mit einer Hand an der Wand abstützte und sich bückte wie ein ausgepumpter Läufer. Wie fühlte sich der Beginn eines Herzanfalls an? Wie ein rostiges Skalpell in der Brust, das sucht, sich dreht, alle wichtigen Leitungen und Röhren durchschneidet, die die Maschine versorgen? Ralph vermutete, daß es sich so verhielt. Und wenn Lois so etwas zustoßen sollte…

»Ja?« wollte er wissen, packte sie an den Schultern und drehte sie zu sich um. »Hast du Schmerzen in der -«

»Mir geht es gut«, keuchte sie. »Ich wiege nur zu -«

Peng-peng-peng: Pistolenschüsse hinter dem Auto, das die Straße versperrte. Ihnen folgte ein heiserer, hustender Laut, den Ralph mühelos aus Nachrichtensendungen über Bürgerkriege in Ländern der Dritten Welt und über Schießereien in amerikanischen Städten der Dritten Welt kannte: eine auf Schnellfeuer gestellte automatische Waffe. Weitere Pistolenschüsse, dann der lautere, rauhere Knall einer Schrotflinte. Darauf folgte ein Schmerzensschrei, bei dem Ralph zusammenzuckte und sich die Ohren zuhalten wollte. Er nahm an, daß es der Schrei einer Frau war, und da fiel ihm plötzlich wieder ein, woran er sich nicht mehr hatte erinnern können: der Nachname der Frau, die John Leydecker erwähnt hatte. Sandra McKay.

Daß ihm das gerade in diesem Augenblick wieder einfiel, erfüllte ihn mit unbegründetem Entsetzen. Er versuchte sich einzureden, daß jeder x-beliebige geschrien haben konnte selbst Männer hörten sich manchmal wie Frauen an, wenn sie verletzt worden waren -, aber er wußte es besser. Sie war es. Sie waren es alle. Eds Irre. Sie hatten einen Anschlag auf High Ridge verübt.

Hinter ihnen weitere Sirenen. Der Geruch von Rauch, jetzt dicker. Lois sah ihn mit erschrockenen, ängstlichen Augen an und rang weiter nach Luft. Ralph sah bergauf und erblickte einen silbernen Briefkasten am Wegesrand. Selbstverständlich stand kein Name darauf; die Frauen von High Ridge hatten sich größte Mühe gegeben, unauffällig zu bleiben und ihre Anonymität zu wahren, was ihnen heute freilich wenig genützt hatte. Die Flagge des Briefkastens zeigte nach oben. Jemand hatte einen Brief für den Briefträger eingeworfen. Da mußte Ralph an den Brief denken, den Helen ihm von High Ridge geschrieben hatte - ein zurückhaltender Brief, aber dennoch voller Hoffnung.

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