Plötzlich stießen die beiden Räder zusammen, obwohl die Jungs es bisher erfolgreich geschafft hatten, einander auszuweichen. Beide Jungs fielen zu Boden, sprangen aber sofort wieder auf die Füße. Ralph stellt erleichtert fest, daß keinem etwas geschehen war; ihre Auren flackerten nicht einmal.
»Verdammte Pißnelke!« rief derjenige im Nirvana T-Shirt seinem Freund ärgerlich zu. Er war etwa elf. »Was, zum Teufel, ist los mit dir? Du fährst wie alte Leute ficken!«
»Ich hab was gehört«, sagte der andere und setzte sich die Mütze penibel wieder auf das schmutzige blonde Haar, »‘n verdammt lauten Knall. Willst du behaupten, du hast nichts gehört? Ey, Mann!«
»Einen Scheiß hab ich gehört«, sagte der Nirvana-Junge. Er hielt die Handflächen hoch, die jetzt schmutzig waren (oder auch nur schmutziger) und aus zwei oder drei unbedeutenden Aufschürfungen bluteten. »Sieh dir diesen Scheiß-Asphaltschorf an!«
»Du wirst es überleben«, sagte sein Freund mit bemerkenswert wenig Mitgefühl.
»Klar, aber -« Der Nirvana-Junge bemerkte Ralph, der an seinem rostigen Oldsmobile lehnte, die Hände in den Taschen, und sie beobachtete. »Was gibts’n anzugaffen?«
»Dich und deinen Freund«, sagte Ralph. »Mehr nicht.«
»Mehr nicht, hm?«
»Jawohl - das ist alles.«
Der Nirvana-Junge sah seinen Freund an, dann Ralph. In seinen Augen leuchtete ein unverhohlener Argwohn, wie man ihn, fand Ralph, nur in Old Cape finden konnte. »Haben Sie’n Problem?«
»Ich nicht«, sagte Ralph. Er hatte ziemlich viel von der Aura des Nirvana-Jungen inhaliert und fühlte sich jetzt ein wenig wie Superman auf Speed. Außerdem fühlte er sich wie ein Kinderschänder. »Ich habe mir nur überlegt, daß wir nicht wie du und dein Freund geredet haben, als wir noch Kinder waren.«
Der Nirvana-Junge betrachtete ihn frech. »Ach ja? Und wie haben Sie geredet?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, sagte Ralph, »aber ich glaube nicht, daß wir uns so sehr wie Pißköpfe angehört haben.« Er wandte sich von ihnen ab, als er das Fliegengitter zuschlagen hörte. Lois kam mit einem großen Becher Kaffee in jeder Hand aus dem DunkinDonuts heraus. Derweil sprangen die Jungs auf ihre neonfarbenen Fahrräder und brausten davon, wobei der Nirvana-Junge Ralph einen letzten mißtrauischen Blick über die Schulter zuwarf.
»Kannst du das hier trinken und gleichzeitig Auto fahren?« fragte Lois und gab ihm einen Kaffee.
»Ich denke schon«, sagte Ralph, »aber ich brauche ihn eigentlich nicht mehr. Mir geht es blendend, Lois.«
Sie sah den beiden Jungs nach und nickte. »Gehen wir.«
Die Welt rings um sie herum leuchtete grell, als sie auf der Route 33 zum ehemaligen Barrets Orchards fuhren, und sie mußten auf der Leiter der Wahrnehmung nicht eine einzige Stufe hinauf, um das zu sehen. Die Stadt blieb hinter ihnen zurück, sie fuhren durch einen Wald, der in Herbstfarben lichterloh brannte. Der Himmel war ein blaues Band über der Straße, und der Schatten des Oldsmobile folgte ihnen seitlich und flackerte über Blätter und Äste.
»O Gott, es ist so wunderschön«, sagte Lois. »Ist das nicht wunderbar, Ralph?«
»Ja. Ist es.«
»Weißt du, was ich mir wünsche? Mehr als alles andere?«
Er schüttelte den Kopf.
»Daß wir einfach an den Straßenrand fahren könnten - das Auto abstellen, aussteigen und ein Stück in den Wald hineingehen. Eine Lichtung suchen, in der Sonne sitzen und zu den Wolken hinauf schauen. Du würdest sagen: >Schau dir die an, Lois, die sieht aus wie ein Pferd. < Und ich würde sagen: >Schau da rüber, Ralph, da ist en Mann mit einem Besen. < Wäre das nicht schön?«
»Ja«, sagte Ralph. Links von ihnen tat sich ein schmaler Korridor im Wald auf; Strommasten marschierten den steilen Hang hinunter wie Soldaten. Dazwischen glänzten Hochspannungsleitungen silbern im Sonnenlicht, fein wie Spinnweben. Die Ansätze der Masten waren in dichten Sumach-Stauden verborgen, und als Ralph in die Höhe schaute, sah er einen Falken über der Schneise kreisen, der mit einem Aufwind segelte, so unsichtbar wie die Welt der Auren. »Ja«, sagte er noch einmal. »Das wäre schön. Vielleicht kommen wir sogar einmal dazu, es zu tun. Aber…«
»Aber was?«
»>Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann<«, sagte Ralph.
Sie sah ihn etwas betroffen an. »Was für eine schreckliche Vorstellung!« sagte sie.
»Ja. Ich glaube, die meisten wahren Einsichten sind schrecklich. Es stammt aus einem Gedichtband mit dem Titel Cemetery Nights. Dorrance Marstellar hat ihn mir an dem Tag gegeben, als er in mein Apartment geschlichen ist und die Spraydose Bodyguard in meine Jackentasche gesteckt hat.«
Er sah in den Rückspiegel und konnte mindestens zwei Meilen der Route 33 hinter ihnen sehen, ein schwarzer Streifen durch die lodernden Wälder. Sonnenlicht funkelte auf Chrom. Ein Auto. Möglicherweise zwei. Und wie es aussah, holten sie schnell auf.
»Der alte Dor«, sagte sie.
»Ja. Weißt du, Lois, ich glaube, er gehört auch dazu. Ich weiß, daß er die Auren auch sieht - als ich zu verhindern versuchte, daß Ed und der andere Typ einander an dem besagten Tag die Nasen blutig prügelten, sagte Dor, ich sollte Ed nicht berühren. Ich glaube, er hat schon damals das Leichentuch um Ed herum gesehen.«
»Vielleicht«, sagte sie. »Und wenn Ed ein Sonderfall ist, ist Dorrance vielleicht auch einer.«
»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen. Das Interessanteste an ihm - dem alten Dor, meine ich, nicht Ed -, ist die Tatsache, daß Klotho und Lachesis scheinbar nichts von ihm wissen. Als würde er aus einer völlig anderen Gegend stammen.«
»Was meinst du damit?« »Ich bin nicht sicher, nicht ganz. Aber Mr. K. und Mr. L. haben ihn nicht einmal erwähnt, und das… das scheint… «
Er sah in den Rückspiegel. Jetzt sah er ein viertes Auto hinter den anderen, das allerdings rasch aufholte, und er konnte blaue Blinklichter auf den drei anderen erkennen. Polizeiautos. Unterwegs nach Newport? Nein, wahrscheinlich zu einem etwas näher gelegenen Ort.
Vielleicht sind sie hinter uns her, überlegte Ralph. Vielleicht hat Lois’ Einflüsterung, die Richards sollte vergessen, daß wir je dort gewesen sind, nicht standgehalten.
Aber würde die Polizei vier Streifenwagen hinter zwei alten Leutchen in einem rostigen Oldsmobile herschicken? Das glaubte Ralph nicht. Plötzlich tauchte Helens Gesicht vor seinem geistigen Auge auf. Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen, als er den Olds an den Straßenrand steuerte.
»Ralph? Was…?« Dann hörte sie die anschwellenden Sirenen, drehte sich auf dem Sitz um und riß erschrocken die Augen auf. Die ersten drei Streifenwagen donnerten mit über achtzig Meilen pro Stunde an ihnen vorbei, ließen Geröll auf Ralphs Auto niederregnen und wirbelten das Laub hinter sich zu tanzenden Derwischen auf.
»Ralph!« kreischte sie fast. »Wenn es nun High Ridge ist? Helen ist da draußen! Helen und das Baby!«
»Ich weiß«, sagte Ralph, und als das vierte Polizeiauto so schnell an ihnen vorbeiraste, daß der Olds auf den Stoßdämpfern schwankte, spürte er dieses innere Blinzeln wieder. Er streckte die Hand nach dem Schalthebel aus, aber sie blieb zehn Zentimeter darüber in der Luft stehen. Sein Blick war auf den Horizont gerichtet. Der Fleck dort sah nicht so geisterhaft aus wie der schwarze Schirm, den sie über dem Bürgerhaus gesehen hatten, aber Ralph wußte, daß er genau dasselbe darstellte: ein Leichentuch.
»Schneller!« schrie Lois ihn an. »Fahr schneller, Ralph!«
»Ich kann nicht«, sagte er. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die Worte kamen gepreßt heraus. »Ich fahre schon Bleifuß.« Außerdem, fügte er nicht hinzu, bin ich seitfiinfunddreißig Jahren nicht mehr so schnell gefahren, und ich habe eine Heidenangst.
Die Geschwindigkeitsanzeige zitterte eine Haaresbreite über der 80 auf dem Tachometer; der Wald sauste als gelbe und rote und magentafarbene Schlieren vorbei; der Motor unter der Haube tickte nicht mehr nur, er hämmerte wie eine ganze Schwadron Schmiede auf einem Amboß. Trotzdem holten drei weitere Polizeiautos, die Ralph jetzt im Rückspiegel sah, mühelos auf.