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Weitere Schüsse. Das Heulen eines Querschlägers. Berstendes Glas. Ein Aufschrei, der Wut ausdrücken konnte, wahrscheinlicher aber Schmerzen. Das hungrige Prasseln heißer Flammen, die trockenes Holz verschlangen. An-und abschwellende Sirenen. Und Lois’ dunkle spanische Augen, die auf ihn gerichtet waren, denn er war der Mann, und sie war in dem Glauben erzogen worden, daß Männer wußten, was in solchen Situationen zu tun war.

Dann tu etwas! schrie er sich selbst an. Um Himmels willen, tu etwas!

Aber was? Vernunft und logisches Denken verschwanden hinter einer Windhose durcheinanderwirbelnder Bilder: Bills Panamahut mit der angebissenen Krempe; leuchtende Spuren -die Spuren des weißen Mannes - auf dem Bürgersteig vor May Lochers Haus; Trigger Vachons Brieftasche, die aufund zuklappte, als er Ralph winkte, damit er anhalten sollte; ein fliegender Dumbo, zwischen dessen übergroße, ausgebreitete Ohren das Bild von Susan Day geklebt worden war.

»PICKERING!« bellte eine lautsprecherverstärkte Stimme hinter der Stelle, wo sich der Weg in eine Schonung junger, weihnachtsbaumgroßer Fichten verzweigte. Ralph konnte jetzt rote Funken und orangefarbene Flammenzungen in dem dichten Rauch über den Fichten sehen. »PICKERING! ES SIND FRAUEN DA DRIN! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«

»Er weiß, daß Frauen da drin sind«, murmelte Lois. »Ist ihnen nicht klar, daß er das weiß? Sind sie dumm, Ralph?«

Ein seltsam bebender Schrei antwortete dem Polizisten mit der Flüstertüte, und Ralph merkte erst nach einer oder zwei Sekunden, daß es sich bei der Antwort um eine Art Gelächter handelte. Eine weitere Salve automatischen Gewehrfeuers ertönte. Sie wurde von einem Bombardement von Pistolen-und Flintenschüssen beantwortet.

Lois drückte Ralphs Hand mit kalten Fingern. »Was sollen wir tun, Ralph? Was sollen wir jetzt tun?«

Er betrachtete die grauschwarzen Rauchschwaden über den Bäumen, dann die Polizeiautos, die den Hügel heraufgerast kamen - diesmal mehr als ein halbes Dutzend - und zuletzt Lois’ blasses, verhärmtes Gesicht. Sein Denken klärte sich ein kleines bißchen - nicht sehr, aber soweit, daß ihm klar wurde, es gab nur äne mögliche Antwort auf ihre Frage.

»Wir gehen rauf«, sagte er.

Blinzel! und die Flammen, die über dem Fichtenhain loderten, wurden von Orange zu Grün. Das gierige Prasseln klang gedämpfter, wie Kracher, die in einer geschlossenen Kiste explodieren. Ralph, der immer noch Lois’ Hand hielt, führte sie an der vorderen Stoßstange des Polizeiautos vorbei, das als Straßensperre quergestellt worden war.

Die neu eingetroffenen Streifenwagen hielten vor der Straßensperre. Männer in blauen Uniformen stiegen aus, noch ehe sie richtig zum Stillstand gekommen waren. Mehrere trugen Tränengaspistolen, fast alle dicke schwarze Westen. Einer von ihnen sprintete durch Ralph hindurch wie ein warmer Windstoß, bevor er beiseite springen konnte: ein junger Mann namens David Wilbert, der glaubte, daß seine Frau eine Affäre mit ihrem Boss im Maklerbüro hatte, wo sie als Sekretärin arbeitete. Aber die Frage seiner Frau war, zumindest vorübergehend, von David Wilberts fast unerträglichem Drang zu pinkeln und dem fortwährenden ängstlichen Gesang verdrängt worden, der sich wie eine Schlange durch sein ganzes Denken wand:

[»Du wirst dich nicht blamieren, du wirst dich nicht blamieren, nein, nein, nein.«]

»PICKERING!« bellte die Megaphonstimme, und Ralph stellte fest, daß er die Worte tatsächlich im Mund schmecken konnte, wie kleine Silberkügelchen. »IHRE FREUNDE SIND TOT, PICKERING! WERFEN SIE DIE WAFFE WEG UND KOMMEN SIE AUF DEN HOF! LASSEN SIE UNS DIE FRAUEN IN SICHERHEIT BRINGEN!«

Ralph und Lois, unsichtbar für die Männer, die um sie herum liefen, gingen um die Ecke und kamen zu einem Knäuel von Polizeiautos an einer Stelle, wo die Straße zur auf beiden Seiten von Blumenkästen mit bunten Herbstblumen gesäumten Einfahrt wurde.

Die weibliche Note, welch freundlicher Bote, dachte Ralph.

Die Einfahrt führte zum Hof eines geräumigen, mindestens siebzig Jahre alten Farmhauses. Es war zweistöckig und hatte zwei Flügel und eine große Veranda, die an der gesamten Länge des Gebäudes verlief und einen herrlichen Ausblick nach Westen bot, wo dunstige blaue Berge im Morgenlicht aufragten. In diesem Haus mit seiner friedlichen Aussicht hatte einmal die Familie Barrett mit ihrem Apfelgeschäft gewohnt, und in neuerer Zeit Dutzende geprügelter, ängstlicher Frauen, aber ein Blick verriet Ralph, daß morgen früh niemand mehr hier wohnen würde. Der Südflügel brannte lichterloh, und diese Seite der Veranda fing ebenfalls gerade Feuer; Flammenzungen stießen zu den Fenstern heraus und leckten gierig an den Erkern entlang, so daß Schindeln als feurige Splitter in die Luft stoben. Am anderen Ende der Veranda sah er einen Schaukelstuhl aus geflochtenem Peddigrohr brennen. Ein halb gestrickter Schal lag auf einer Armlehne; die Stricknadeln, die daran herunterbaumelten, waren weißglühend. Irgendwo ließ ein Glockenspiel eine nervtötend monotone Melodie erklingen.

Eine tote Frau im grünen Drillichanzug und einer Fliegerjacke lag kopfunter auf der Verandatreppe und sah durchblutverschmierte Brillengläser himmelwärts. Sie hatte Schmutz im Haar, eine Pistole in der Hand und ein unregelmäßiges schwarzes Loch in der Bauchgegend. Am nördlichen Ende der Veranda hing ein Mann über dem Geländer, der einen Fuß auf der Hollywood-Schaukel aufgestützt hatte. Auch er trug Drillichzeug und eine Fliegerjacke. Unter ihm im Blumenbeet lag ein Sturmgewehr mit aufgestecktem Magazin. Blut rann an seinen Fingern hinab und tropfte von den Nägeln. In Ralphs gesteigerter Wahrnehmung sahen die Tropfen schwarz und tot aus.

Feiton, dachte er. Wenn die Polizisten noch Pickerings Namen rufen - falls er sich im Inneren des Hauses aufhält -, dann muß das Frank Feiton sein. Und was ist mit Susan Day? Ed hält sich irgendwo an der Küste auf-Lois schien ganz sicher zu sein, und ich denke, sie hat recht -, aber wenn Susan Day da drinnen ist? Herrgott, wäre das möglich?

Es wäre sicher möglich, aber diese Möglichkeit war im Augenblick zweitrangig. Helen und Natalie waren mit Sicherheit da drinnen, zusammen mit weiß Gott wie vielen hilflosen und verängstigten Frauen, und daraufkam es an.

Aus dem Innern des Hauses ertönte das Geräusch von splitterndem Glas, gefolgt von einer leisen Explosion - fast einem Seufzen. Ralph sah neue Flammen hinter der Glasscheibe der Eingangstür emporlodern.

Molotowcocktails, dachte er. Charlie Pickering hat endlich die Möglichkeit bekommen, ein paar zu werfen. Wie schön für ihn.

Ralph wußte nicht, wieviele Polizisten sich hinter den am Ende der Einfahrt geparkten Autos duckten - es schienen knapp dreißig zu sein -, aber die beiden, die Ed Deepneau verhaftet hatten, sah er gleich. Chris Nell kauerte hinter dem Vorderreifen des am nächsten beim Haus geparkten Autos, und John Leydecker, der eine Baseballjacke der Maine Black Bears und Chino-Hosen und trug, hockte auf einem Knie neben ihm. Nell war derjenige mit dem Megaphon, und als Ralph und Lois sich der Polizeifestung näherten, sah er Leydecker an. Leydecker nickte, deutete auf das Haus und zeigte Nell dann die Handflächen, eine Geste, die Ralph mit Leichtigkeit deuten konnte: Sei vorsichtig. In Chris Nells Aura las er etwas Beunruhigenderes: der junge Mann war zu aufgeregt, um vorsichtig zu sein. Zu aufgekratzt. Und fast als wäre Ralphs Gedanke der Auslöser dafür gewesen, veränderte Chris Nells Aura die Farbe. Sie pulsierte mit unerbittlicher Geschwindigkeit von Hellblau über Dunkelgrau zu einem toten Schwarz.

»GEBEN SIE AUF, PICKERING!« schrie Nell, der nicht wußte, daß er ein toter Mann war, der noch atmete.

Der Metallschaft eines Sturmgewehrs wurde im Erdgeschoß des Nordflügels durch eine Fensterscheibe gestoßen und verschwand wieder. Im selben Augenblick explodierte die Lampe über der Eingangstür; Glasscherben regneten auf die Veranda. Flammen loderten brüllend aus der Öffnung heraus. Eine Sekunde später brach das Dach selbst auf, als hätte eine unsichtbare Hand es geschüttelt. Nell beugte sich weiter nach vorne - möglicherweise dachte er, daß der Schütze endlich zur Vernunft gekommen war und aufgab.

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