Gegen neun Uhr hatte ich fast jeden Blickwinkel markiert. Ich hielt das Wachspapier hoch und bewunderte das entstandene Muster aus sauberen X-en, das ich darauf gezeichnet hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie alle bedeuteten. Zum Teufel noch mal – sie schienen keinerlei Muster zu bilden, doch ich hatte die Hoffnung, dass George Thousand Names mich möglicherweise erleuchten könnte.
Ich steckte das Blatt in meine Hosentasche, ging durch die Küche, setzte Wasser für eine weitere Kanne Kaffee auf und stellte den kleinen tragbaren Fernseher an, den mir meine Mutter letztes Weihnachten geschenkt hatte. Nach einigen Reklamesendungen für Zucker-Frosties und einer blöden Plastikschleuder, mit der sich Action-Man über die Hecke des Nachbarn schießen ließ, erwischte ich die Nachrichten über den Krankenwagen, aus dem Seymour Wallis’ Leiche entführt worden war.
Der Ansager berichtete: »Die SWAT-Einheit von San Francisco jagt noch immer einen unheimlichen Entführer, der einen Krankenwagen auf dem Weg vom Elmwood Foundation Hospital zur Redwood City Clinic überfiel und die Leiche von Seymour Wallis stahl, der in unserer Stadt wohnte. Der Entführer wird von den Beamten als ›bewaffnet und sehr gefährlich‹ beschrieben. Er verletzte den begleitenden Arzt Dr. Kenneth Crane sehr schwer, ebenso Miguel Corralitos, einen 27-jährigen Krankenpfleger. Der Körper von Mr. Wallis wurde später von einem Fischer in der Bucht hinter Millbrae gefunden. Bis jetzt hat die Polizei keinen Hinweis auf die Gründe für diese Tat, aber sie versprach, schnellstmöglich neue Informationen bekannt zu geben.«
Danach folgte ein Bericht über Orangen-Mehltau auf einer Fruchtfarm vor der Stadt. Ich schaltete den Fernseher aus.
Also war Coyote noch frei, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, welche Form er jetzt angenommen haben könnte oder wo er sich aufhielt. Was tut ein widerlicher Dämon während des Tages? Er kann unmöglich durch die Straßen von San Francisco streifen, besonders nicht mit Lieutenant Stroud und der SWAT-Mannschaft auf seiner Fährte. Falls er überhaupt eine Spur hinterließ.
Mein Kaffeewasser begann zu gurgeln und zu sprudeln. Ich schreckte richtig zusammen. Während ich hinaus auf die Hinterhöfe der umliegenden Apartmenthäuser schaute, zündete ich mir noch eine Zigarette an. Es war Sonntag. Auf der Feuerleiter saß ein schwangeres Mädchen im Kittel und bürstete ihr Haar in der Morgensonne trocken. Ich hustete und wünschte, ich könnte mit dem Rauchen aufhören. Im Augenblick zumindest schien es wenig Sinn zu ergeben. Wenn der Krebs mich nicht holte, dann würde es wahrscheinlich Coyote tun.
Das Telefon läutete. Ich nahm den Hörer ab. »John Hyatt.«
Es war George Thousand Names, der vom Mark Hopkins aus anrief. »Haben Sie gut geschlafen?«, fragte er.
»Gar nicht«, sagte ich. »Ich habe den Rest der Nacht damit verbracht, die verschiedenen Blickwinkel auf Mount Taylor und Cabezon Peak aufzuzeichnen.«
»Sieht es nach etwas Interessantem aus?«
»Tja, könnte sein. Aber ich glaube, jemand müsste es richtig deuten. Ich war nie besonders gut in Trigonometrie.«
»Möchten Sie rüber zu mir kommen? Solange das Halsband an der Tür hängt, wird Ihre Wohnung geschützt sein.«
»Da sind Sie sich sicher?«
»Sicher bin ich sicher. Auf jeden Fall wird Coyote jetzt sowieso ausruhen, um das Blut in seinem Körper zu absorbieren.«
»Ich frage mich, was Dämonen so am Tag treiben.«
»Dämonen sind Wesen der Dunkelheit«, sagte George Thousand Names. »Bei Sonnenlicht ist ihre Kraft geschwächt. Sie können also darauf wetten, dass Coyote sich in irgendein verlassenes Haus verzogen hat oder in einen Abwasserkanal. Vielleicht hat er sich sogar nach 1551 zurückgezogen.«
»Wäre es nicht gut, wenn wir versuchen würden, ihn jetzt bei Tageslicht aufzustöbern?«
»John … wenn ich sage, dass seine Kräfte geschwächt sind, dann meine ich damit nicht, dass er überhaupt keine Kräfte hat.Wenn wir uns dieser Kreatur nähern, sind wir totes Fleisch. Ich meine das ernst.«
»Danke für die erfreuliche Nachricht. Ich werde etwa in einer Stunde bei Ihnen sein. Ich möchte erst einmal duschen, denn ich stinke wie ein Schwein.«
»Okay«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, Ihre Karte mitzubringen.«
Ich wollte gerade antworten: »absolut nicht«, als mir die Worte auf den Lippen erstarben. Die Küchentür hatte sich einen Spalt geöffnet und draußen stand etwas und beobachtete mich.
Ich sah das Glitzern dunkler Augen und einen düsteren Umriss. Mich überkam das Gefühl, als verschwinde die Welt unter mir, und jeder Nerv meines Körpers kribbelte und zitterte vor Angst.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte die leise, weit entfernte Stimme von George Thousand Names.
»Warten Sie. Da steht etwas vor meiner Tür. Ich weiß nicht, was es ist. Warten Sie.«
»Welche Tür?«, fragte er.
»Die Küchentür. Die Küchentür, es ist …«
Die Tür wurde so hart aufgestoßen, dass Holzsplitter und herausgerissene Türangeln durch den Raum flogen. Ich schrie laut auf, warf mich von meinem Stuhl und krabbelte über den Boden zum Spülbecken. Dort bewahrte ich in einer Schublade meine Messer auf – ich brauchte jetzt eine Waffe.
Das Biest kam wie eine Flutwelle aus schwarzem Pelz durch die Tür. Es war ein Bär, ein massiver, voll ausgewachsener Grizzly, fast 150 Kilo Haare, Muskeln und bösartig gekrümmte Krallen. Er stieß heftig gegen die Küchenmöbel. Der Fernseher, die Kaffeemaschine und das Gewürzregal krachten herab und zersplitterten auf dem Boden.
Als der Bär sich umdrehte, schnaubte er böse. Ich zog die Küchenschublade zu schnell und zu kräftig auf und ein Regen aus Messern, Gabeln, Apfelentkernern und anderen Geräten ergoss sich um mich herum.
Ich duckte mich, ergriff mein größtes Küchenmesser und rollte mich, so schnell ich konnte, in Richtung der zerbrochenen Tür. Der Bär blieb stehen und schnaubte heftig. Erst jetzt sah ich ihn richtig an.
Es war nicht nur ein riesiges Biest mit zotteligem Fell und strengem animalischem Geruch. Es hatte ein bleiches weißes Gesicht – bleich wie das einer Frau, jedoch mit gelblichen Zähnen, die bei jedem Schnauben und Brummen zum Vorschein kamen. Ich starrte es an, versuchte zu verstehen, was es war, was es sein könnte. Ich war so geschockt und entsetzt, dass ich es erst einmal nicht fassen konnte, und ich vermochte meinen Verstand nicht darauf zu konzentrieren, dass dieses schreckliche Biest tatsächlich existierte.
Es war Jane. So brutal und wild sie auch waren, diese Augen waren ihre Augen. Dieses Gesicht war ihr Gesicht. Die seltsame Statue auf dem Treppengeländer in Seymour Wallis’ Haus war zum Leben erwacht. Und sie stand hier.
Ich flüsterte: »Jane.«
Sie antwortete nicht, schnaubte nur und kam unbeirrbar auf mich zu, ihre scharfen Pranken kratzten auf dem Küchenboden. Speichel tropfte von ihren Zähnen herab und in ihrem Gesichtsausdruck stand alleine blinder, animalischer Hass.
»Jane, hör doch.« Meine Stimme war nur ein Krächzen. Die ganze Zeit versuchte ich rückwärts zur Tür zu kommen. Ich sah, wie sich die Muskeln unter dem rauen, glänzenden Fell anspannten, und wusste, dass sie mich gleich anspringen würde. Dieses Mal verfehlte sie ihr Ziel wohl kaum.
Auf dem Boden wiederholte der Telefonhörer immer wieder: »John? John? Was ist los, was ist passiert?«
Man hörte ein kurzes Trommeln der scharfen Krallen, dann sprang die Bärenfrau mit der Gewalt eines riesigen schwarzen Autos auf mich zu. Ich weiß, dass ich schrie, aber es geschah dieses Mal mit aggressiver Verzweiflung, diese Art Banzai-Schrei, der einem in der Armee beigebracht wird, um das Adrenalin hochzupumpen.
Als der gewaltige Bär auf mich zusprang, riss ich meinen Arm zurück und schlug ihm mit dem Fleischmesser mitten ins Gesicht. Das half wenig. Die Kraft des Sprunges warf mich gegen die Wand. Wir fielen auf den Boden in einer scheußlichen Umarmung von Blut, Fell und Klauen. Ich glaube, ich war für einen Moment bewusstlos, aber dann gelang es mir, etwas von dem Gewicht auf meinen Beinen und Hüften zur Seite zu schieben und sie herumzurollen.