Sie schwieg einige Momente, ihre Hand auf den Kopf der Statue gelegt, dann schaute sie auf. »Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht denke ich später darüber nach. Sollen wir weitergehen?«
Bryan ging voran. Wir folgten ihm so leise wie möglich die alten, quietschenden Treppen hinauf. Es waren zwei Treppen mit jeweils etwa zehn Stufen, dann standen wir auf einem langen Flur, der ebenfalls von einer trüben Glaslampe erleuchtet wurde und mit einem staubigen roten Teppich ausgelegt war. Es sah aus, als wäre das Haus seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr renoviert worden, und überall hingen diese tiefgründige Stille und dieser klamme Mief.
»Der Bürokamin muss durch diesen Raum führen«, sagte Bryan. Er führte uns zu einer Tür, die am Ende des Flurs lag. Er drückte den Messinggriff herunter und öffnete sie.
Es war ein kleines, kaltes Schlafzimmer. Es hatte ein Fenster zum Garten hin, in dem sich dunkle, nasse Bäume im Wind und Regen hin und her bewegten. Die Wände waren blassblau tapeziert und wiesen überall Wasserflecke auf. Das wenige Mobiliar bestand aus einem mit Klarlack behandelten Kleiderschrank und einem schäbigen Eisenbett. Auf dem Boden lag altmodisches Linoleum, das vor vielen Jahren einmal grün gewesen sein musste.
Bryan ging zum Kamin, der dem in Seymour Wallis’ Büro glich, nur dass ihn jemand cremefarben gestrichen hatte. Er kniete nieder und lauschte, während wir Übrigen um ihn herumstanden und ihn beobachteten.
»Kannst du etwas hören?«, fragte ich. »Ist er noch blockiert?«
»Ich schätze schon«, antwortete er und strengte dabei seine Augen an, um in der Dunkelheit etwas zu sehen. »Ich muss nur um die Kante herumschauen, dann könnte ich vielleicht …«
Er rückte etwas näher heran und schob seinen Kopf vorsichtig unter der Feuerhaube hindurch.
Dr. Jarvis lachte, aber es war ein nervöses Lachen. »Können Sie etwas erkennen?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete Bryan mit dumpfer Stimme. »Hier ist die Resonanz ganz anders. Eine Art dumpfes Geräusch. Ich bin mir nicht sicher, ob es durch den Schornstein hereinkommt oder ob es durchs ganze Haus vibriert.«
»Wir können hier draußen nichts hören«, sagte ich.
»Dann kommt her«, erwiderte Bryan und kroch weiter, sodass sein ganzer Kopf im Kamin verschwand.
»Ich schätze, dass Sie sich Ihr Haar waschen müssen, bevor Sie wieder in die Zivilisation zurückkehren«, sagte Jane.
»Ach, ich habe schon Schlimmeres getan als das hier«, meinte Bryan. »Abwasserkanäle sind schlimmer als eine ganze Woche Schornsteine.«
»Kannst du jetzt etwas hören?«, fragte ich und kniete mich neben den Kamin.
»Sssshht!«, forderte Bryan. »Jetzt baut sich hier irgendein Geräusch auf. Wieder dieses dumpfe Schlagen.«
»Ich kann immer noch nichts hören«, sagte ich.
»Hier drinnen höre ich es ganz deutlich. Da ist es wieder. Bum-bum-bum-bum-bum-bum-bum.Es ist fast wie ein Herzschlag. Bum-bum-bum– warum messt ihr es nicht? Hast du einen Sekundenzeiger an deiner Uhr?«
»Ich werde es messen«, sagte Dr. Jarvis. »Wenn es ein Puls ist, dann fällt es in mein Fachgebiet.«
»Okay.« Bryan hustete. »Ich beginne jetzt.«
Er hielt seinen Kopf in der Kaminhaube und suchte blind mit seiner Hand umher, bis er Dr. Jarvis’ Knie ertastete. Dann begann er, das, was in seinen Ohren dröhnte, als Takt zu schlagen, und Dr. Jarvis prüfte es mit seiner Uhr.
»Es ist kein Puls«, kommentierte Dr. Jarvis nach einigen Minuten. »Zumindest kein menschlicher Puls.«
»Reicht das?«, hustete Bryan. »Ich bekomme hier nämlich Klaustrophobie.«
»Sie sind der Santa Claustrophobius«, scherzte Jane. »Bringen Sie uns einen Sack voll mit Spielsachen mit?«
»Ach, Blödsinn«, brummte Bryan und fing an, sich wieder herauszuwinden.
Unvermittelt schrie er entsetzlich auf. Ich habe noch nie einen Menschen so schreien hören … Eine Sekunde lang konnte ich mir nicht vorstellen, was passierte. Dann brüllte er: »Holt mich raus! Holt mich raus! Um Himmels willen, holt mich raus!«,und ich wusste, dass etwas Schreckliches mit ihm geschah.
Dr. Jarvis packte eines von Bryans Beinen und schrie: »Zieh! Zieh ihn da raus!«
Vor Furcht erstarrt, packte ich Bryans zweites Bein, und gemeinsam versuchten wir, ihn herauszuziehen. Aber, obwohl nur sein Kopf in dem Kamin hing, schien er darin festzustecken. Er kreischte und schrie und seinen gesamten Körper durchzuckten Todeskrämpfe.
»Holt mich raus! Holt mich raus! Oh Gott, oh Gott, holt mich raus!«
Dr. Jarvis ließ Bryans Bein los und versuchte zu erspähen, was dort in der Kaminhaube vor sich ging. Aber Bryan zappelte und kreischte so grauenhaft, dass es unmöglich war zu erkennen, was vor sich ging.
Dr. Jarvis brüllte: »Bryan! Bryan, hören Sie! Keine Panik! Halten Sie still oder Sie werden sich verletzen!«
Er drehte sich um zu mir. »Irgendwie muss sein Kopf feststecken. Um Gottes willen, versuchen Sie, ihn ruhig zu halten.«
Wir beide rissen an der Kaminhaube, um sie aus der Befestigung der Fliesen zu lösen, aber sie saß durch den Staub und den Ruß der Jahre so fest, dass es uns nicht gelang. Bryan schrie die ganze Zeit, aber dann verstummte er plötzlich und sein Körper sackte auf den Boden des Kamins.
»Oh Gott«, sagte Dr. Jarvis. »Sehen Sie.«
Unter der Haube floss langsam feucht glänzendes Blut hervor, das Bryans Kragen und Krawatte durchtränkte. Jane, die hinter uns stand, würgte. Das war viel zu viel Blut für einen kleinen Schnitt oder einen Kratzer. Es tropfte von Bryans Hemd herab und über unsere Hände, bis es in die Fugen zwischen die Platten des Kaminbodens floss.
»Jetzt vorsichtig«, befahl Dr. Jarvis. »Ziehen Sie ihn vorsichtig herunter.«
Stück für Stück zogen wir Bryans Körper abwärts. Zunächst schien es, als würde sein Kopf immer noch festgehalten, aber dann stieg uns der eklige Geruch von rohem Fleisch in die Nase und er rutschte vollständig aus dem Kamin, fiel auf das Feuergitter.
Ich starrte mit wachsendem Grauen auf seinen Kopf. Ich konnte es kaum ertragen hinzusehen, aber wegsehen konnte ich auch nicht. Von seinem gesamten Kopf war die Haut abgeschält. Nur der nackte Schädel war noch übrig, an dem einige wenige Fetzen Fleisch und Haarbüschel hingen. Sogar die Augen waren aus ihren Höhlen herausgerissen worden, sodass nur noch klebrige Knochen zurückgeblieben waren.
Jane, deren Stimme vor Übelkeit zitterte, sagte: »Oh John, oh mein Gott, was ist passiert?«
Dr. Jarvis legte Bryans Körper vorsichtig nieder. Der Schädel machte auf den Fliesen ein grausiges, knöchernes Geräusch. Dr. Jarvis’ Gesicht war so weiß und geschockt, wie meines wohl auch aussehen musste.
»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, flüsterte er. »Noch nie.«
Ich schaute auf den dunklen Schlund des alten viktorianischen Kamins. »Ich will nur wissen, washat das getan. Um Himmels willen, Doktor, was hängt da oben drin?«
Dr. Jarvis schüttelte stumm den Kopf. Keiner von uns traute sich, in den Kaminschacht zu blicken. Was auch immer Bryan das Fleisch vom Kopf gerissen hatte, ob es ein launenhafter Unfall oder ein bösartiges Tier war, niemand von uns wollte sich dem stellen.
»Jane«, sagte Dr. Jarvis und nahm eine Karte aus seiner Brusttasche, »das ist die Nummer des Elmwood Foundation Hospital, in dem ich arbeite. Rufen Sie Dr. Speedwell an und sagen Sie ihm, was passiert ist. Sagen Sie ihm, dass ich hier bin. Und bitten Sie ihn, uns so schnell wie möglich einen Krankenwagen herzuschicken.«
»Was ist mit der Polizei?«, fragte ich. »Wir können nicht einfach …«
Dr. Jarvis sah skeptisch zum Kamin hinüber. »Ich weiß nicht. Meinen Sie, dass die uns glauben werden?«
»Um Gottes willen, wenn da irgendetwas in dem Kamin steckt, das Leute auseinanderreißt, dann werde ich da nicht hochsteigen und nachsehen. Und Sie werden das auch nicht tun.«
Dr. Jarvis nickte. »Okay«, sagte er zu Jane. »Rufen Sie die Polizei auch an.«