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»Sie verstehen nicht!«, flüsterte Waterweg. »Es ist alles ganz anders, ich … ich kann es Ihnen erklären …«

Und da spürte Ben, dass Waterweg Angst hatte. So viel Angst, dass er die Kontrolle über sich verlor. Er begann deutsch zu sprechen. Schnell und hektisch. Keiner der anderen Männer verstand deutsch.

»Miller«, sagte Lindsey, »lassen Sie ihn los.«

»Zu Befehl, Sir«, sagte Miller.

Es war bestimmt die schnellste Exekution, die je auf den Galapagosinseln stattgefunden hatte. Ben Miller ließ los, er sah, wie Waterweg versuchte aufzustehen, doch die Kugel traf ihn, ehe er halb auf den Beinen war. Ben spürte warmes Blut auf seinem Hemd und wusste, dass es nicht sein Blut war.

Er sah auf, als Lindsey neu lud und ein zweites Mal abdrückte. Dieser zweite Schuss galt nicht Thomas Waterweg. Es gab keinen Thomas Waterweg mehr.

Der zweite Schuss galt einem der drei Männer, die oberhalb von ihnen auf dem Weg standen.

José sah, dass etwas nicht stimmte.

Er sah, wie einer der Amerikaner unten auf dem Weg sein Gewehr anlegte. Er sah, dass der Ecuadorianer, der bei Marits Eltern war, ebenfalls seine Waffe von der Schulter nahm.

»Nein«, hörte er Marits Vater sagen. »Lassen Sie das! Die dort unten werden nicht schießen. Sie sind nur nervös. Es ist alles ein großes Missverständnis. Wir werden ihnen erklären, dass es nur eine Farm auf dieser Insel gibt, sonst nichts.«

»Sie werden es nicht glauben«, sagte Felipe.

José sah wieder nach unten, zu den Amerikanern. Sein Vater stand etwas abseits. Die anderen sprachen miteinander. Waterweg lag jetzt am Boden, er versuchte aufzustehen, und José hörte den Schuss, der ihn endgültig niederstreckte. Er hörte die Vögel in den Bäumen ringsum auffliegen wie eine bunte Explosion. Er sah den Mann mit dem Gewehr noch einmal zielen.

Er begriff nicht, was geschehen war. Aber er begriff eines: Der Mann dort unten würde noch einmal schießen. Er zielte auf Marits Vater. Marits Vater, dachte José, der so lange tot gewesen war und nun wieder lebte. –

Alles kehrte sich jetzt um. Es war, als kippte etwas in ihm. Seine Traurigkeit, sein Hass – alles verschwand, und er sah nur noch Marits Vater, der dort auf dem Weg stand, ganz nah – und jetzt, zu spät, die Hände hob.

»Nein!«, schrie José und sprang auf. »Sie erschießen keinen deutschen Spion! Er ist keiner! Sie erschießen … einen Lebens-traum!« Er war mit einem Satz bei Marits Vater, warf sich auf ihn und riss ihn zu Boden, während der Knall des zweiten Schusses die Luft bersten ließ.

Die Kugel traf Marits Vater nicht.

Sie traf José.

Marit und Julia waren oben bei den letzten hohen Bäumen stehen geblieben. Als Waterweg zu Boden ging, riss Marit Julia an sich und hielt sie ganz fest. Sie sah, dass es noch einen Schuss geben würde. Sie sah, dass alles verkehrt war. In dem Moment, als sie den Knall hörte, sah sie José springen. Er schien aus dem Nichts zu kommen, er war plötzlich da und schützte Papa mit seinem Körper. Und dann lag er am Boden, und Papa beugte sich über ihn, ohne weiter auf die Amerikaner zu achten, und da war Blut an Papas Händen. Und Mama und Felipe knieten sich zu Papa, und Mama nahm die alte karierte Mütze ab, sodass ihr langes Haar auf ihre Schultern fiel und sie nicht länger aussah wie ein Mann. Aber wann nimmt jemand seine Mütze im Freien ab? Wenn jemand stirbt, dachte Marit. Dann.

Sie ließ Julia los und rannte.

Als sie bei José ankam, lag er in Mamas Armen. Überall war Blut, aber Marit sah das Blut nicht. Sie sah nur Josés Gesicht. Er bewegte die Lippen. Sie beugte sich ganz nah zu ihm.

»Vielleicht«, hörte sie ihn sagen, »bin ich jetzt … endlich … ein Held.« Damit schloss er die Augen. Da waren Blutspritzer auf seinen Augenlidern.

»Aber was nützt mir ein Heldenbruder, der nicht mehr bei mir ist?«, wisperte Marit.

»Sei nicht traurig«, flüsterte er, kaum noch verständlich. »Wir trennen uns ja nicht für ewig.«

»Gott! Woher kam der Junge?«, fragte Lindsey und ließ das Gewehr sinken.

Ben sah, dass er blass geworden war.

»Ist das der, den wir auf Santiago bewusstlos im Wald gefunden haben?«, fragte Parker.

»Das«, sagte Fernandez mit einer Würde, die beinahe unheimlich war, »ist mein Sohn.«

Er war auf dem Weg den Berg hinauf, ehe jemand ihn daran hindern konnte.

Keiner der drei dort oben machte Anstalten, zurückzuschießen. Sie knieten um den Jungen herum, und Ben sah, wie einer von ihnen die Mütze abnahm. Er erwartete beinahe, dass er sich bekreuzigte. Doch stattdessen schüttelte er den Kopf und da fiel ihm das lange helle Haar auf die Schultern hinab.

»Das ist … eine Frau«, sagte Parker. »Und da kommen zwei Kinder aus dem Wald. Kann es … kann es sein, dass es kein deutsches Militär ist, das wir auf dieser gottverdammten Insel gefunden haben, sondern etwas ganz anderes?«

Lindsey antwortete nicht. Er holte ein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah plötzlich alt aus. Ben stand auf.

»Mit Verlaub, Sir, ich …«, sagte er. Und dann rannte auch er den Weg hinauf, auf die kleine Gruppe von Leuten zu. Er musste etwas tun, irgendetwas. Er war an allem schuld. Vielleicht würden sie ihn erschießen, wenn er dort oben ankam. Er hatte nichts dagegen. Wenn der Junge tot war, sollten sie ihn ruhig erschießen. Er wusste, dass der Gedanke pathetisch war.

Als er bei ihnen ankam, griff niemand zur Waffe. Sie starrten ihn schweigend an, sechs Paar Augen, zu erstarrt, um irgendetwas zu tun. Fernandez hielt seinen Sohn im Arm. Seine Hände waren voller Blut.

Und auf einmal wusste Ben, was er tun musste. Was das einzig Richtige war. Er beugte sich über José und zerriss mit beiden Händen sein Hemd. Auch daran hinderte ihn niemand. Der Junge, der neben ihm kniete – oder war es ein Mädchen? –, sagte nur immer wieder: »Er war ein Held. Ein Held. Er war ein Held«, wie eine hängen gebliebene Langspielplatte.

Ben wischte mit dem Hemd das Blut von der Haut des Jungen, wischte und wischte wie ein Wahnsinniger und suchte die Einschusswunde. Er fand sie und presste den feuchten Stoff darauf, um die Blutung zu stillen. Als er aufsah, traf sein Blick den der Frau mit den Männerkleidern. Sie griff das Mädchen bei den Schultern und schüttelte es.

»Er war ein Held«, sagte das Mädchen, ihre Augen fest auf das Gesicht des leblosen Jungen gerichtet. »Er war …«

»Jetzt hat es ein Ende mit dem Heldsein«, sagte die Frau. Und dann gab sie dem Jungen eine Ohrfeige. »Mach die Augen auf«, sagte sie. »Die Kugel steckt in deiner Schulter. Es blutet, aber es wird aufhören zu bluten. Du stirbst nicht. Hier wird nicht mehr gestorben. Es reicht.«

Als die Sonne an diesem Tag unterging, saß Marit in zu großen, aber sauberen Kleidern auf den Stufen der Veranda und dachte daran, wie sie in ebenfalls zu großen Kleidern auf der Treppe gesessen hatte, die zur Kajüte der Mariposa hinunterführte.

Damals waren es Casafloras Kleider gewesen, jetzt waren es die Kleider ihres Vaters. Früher hatten die Kleider ihres Vaters nach Kreide gerochen und nach dem Schimmel, der sich gern in alten Büchern festsetzte. Damals, als er noch Lehrer gewesen war. Ehe er Soldat geworden und mit einem Flugzeug über Frankreich abgestürzt und gestorben war. Ehe er sich in einem Holzschuppen in einen Geist verwandelt hatte und auf einer grünen Insel wieder begonnen hatte zu leben. Jetzt, in diesem neuen Leben, rochen seine Kleider nach Erde und nach Hühnermist, nach Orangen, nach Sonne und nach dem Saft frischer grüner Pflanzen.

Vielleicht war es nicht nur ein neues Leben, vielleicht war er ein ganz neuer Vater und Mama eine ganz neue Mama und Julia eine neue Julia.

Und ich?, dachte Marit.

»Worüber denkst du nach?«, fragte José, der neben ihr auf den Stufen saß.

»Darüber, ob ich jemand anders geworden bin«, antwortete Marit. »Hier, auf den Inseln.«

»Nein«, sagte José und schüttelte den Kopf. Seine Schulter war so dick verbunden, dass er sich kaum rühren konnte, und Marit wusste, dass er Schmerzen hatte, obwohl er nicht darüber sprach. »Nein, du wirst immer dieselbe unvernünftige alte Schwester bleiben.«

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