Schließlich fielen die letzten Tropfen in den Sand. Auf den regennassen Klippen sah Marit wieder rote Strandkrabben umherlaufen, übermütig wie Kinder, die in Pfützen springen. Kurt watschelte mitten zwischen sie, balancierte seinen wuchtigen weißen Körper über die Felsen und begann die feuerroten Meeresgeschöpfe zu fangen. Er fraß sie nicht, sondern legte sie neben José und Marit in den Sand, mehr und mehr, gepackt von plötzlicher Sammelleidenschaft.
»Ein Feuer«, sagte Marit. »Wir brauchen ein Feuer, José. Wir können sie braten.«
»Damit der Rauch uns verrät?«, fragte José. »An die, die vielleicht hier auf der Insel sind?«
»Nicht, damit der Rauch uns verrät«, erwiderte Marit. »Damit wir nicht verhungern.«
Sie sah zu, wie José die Krabben mit einem Stein tötete, sie zuckte bei jedem Schlag zusammen.
»Ich töte sie nicht, um ihnen wehzutun«, sagte José ernst, »sondern damit wir nicht verhungern.«
Marit sammelte Holz hinter dem Strand, und nach einer Menge Versuchen und Flüchen gelang es José, aus zwei kleinen Steinen einen Funken zu schlagen. Während die Flammen in den Himmel loderten und sie mit den Schalen der Krabben kämpften, war es dunkel geworden. Ihre Kleider waren an ihnen getrocknet und hoch über ihnen blinkten die Sterne.
»Hier sitzen wir also auf der Isla Maldita«, sagte José bitter. »Wir haben es geschafft. Wir sind da. Aber wir besitzen nichts mehr. Nichts außer der Karte. Kein Schiff, kein Gewehr, nicht einmal ein Messer.«
Marit griff in ihre Hosentasche und zog ein zerknülltes Stück Stoff hervor. »Ich habe die alte Mütze meines Vaters«, sagte sie. »Und ich habe eine Reisratte in meinem Ärmel.«
Aber natürlich hatte José recht. Sie hatten nichts mehr. Sie waren der Isla Maldita ausgeliefert. Ihr und ihrem Geheimnis.
José griff ebenfalls in seine Tasche. Er holte eine mehrfach gefaltete Plastikhülle hervor, zog ein Stück Papier heraus und glättete es.
»Die Karte«, wisperte Marit. Jetzt sah sie sie zum ersten Mal. Casafloras Hülle hatte an einigen Stellen das Wasser durchgelassen und dort waren die Linien auf der Karte verschmiert und unkenntlich. Abgesehen davon bestand sie aus dem Umriss der Insel und einer Menge konzentrischer Kreise. Oder eher Ovalen, ineinandergeschachtelten Ovalen. In der Mitte dieser Ovale gab es je einen Stern.
»Höhenlinien«, sagte Marit. »Das sind Höhenlinien, José. Die kleinen Zahlen sind die eingezeichneten Höhenmeter. Geschätzten Höhenmeter, würde ich sagen. Der höchste Punkt ist der Stern.«
»Natürlich«, sagte José, aber sie hörte, dass er nicht daran gedacht hatte. »Allerdings ist der Stern nicht der höchste Punkt. Er ist der tiefste. Der Krater des ehemaligen Vulkans. Alle Inseln haben Vulkane. Alle Inseln sindVulkane. Aber darum geht es nicht. Siehst du das Kreuz dort?«
Marit nickte. Es war winzig und schwarz, auf eine gewisse Weise schwärzer als der Rest der Zeichnung.
»Es führt ein Weg hin«, sagte José. »Hier, die gestrichelte Linie.«
Die Linie begann am Strand neben etwas, das aussah wie ein Felsen im Wasser: eine Spitze, die aus einer Wellenlinie hervorbrach.
»Vielleicht sind das die Klippen, genau hier, am Rand der Bucht«, sagte Marit.
José schüttelte den Kopf. »Die Klippen sind unter Wasser. Zum größten Teil. Es muss noch etwas am Strand geben, etwas Großes, das aus dem Wasser ragt. Und das müssen wir finden. Von dort aus folgen wir dem gestrichelten Weg. Morgen.«
»Falls es den Weg noch gibt«, sagte Marit. »Die echte Karte, die dein Vater als Kind abgezeichnet hat, wie alt war die? Hundert Jahre? Ich fürchte, das Reisebüro dieser unbewohnten Insel hat nicht daran gedacht, den alten Piratenweg jedes Jahr freizuschneiden.«
José knurrte. »Wer weiß«, sagte er, »ob sie so unbewohnt ist, wie sie scheint.«
Und dann begann die erste Nacht auf der Isla Maldita, und sie gehörte zu den langen Nächten, die niemals zu enden scheinen. Wie viele solche Nächte hatte es gegeben, seit sie unterwegs waren! Nächte im Sturm, Nächte voller Misstrauen, Nächte, in denen sie eingesperrt gewesen waren … Nächte, in denen José nicht gewusst hatte, wer wer war und wem er trauen konnte.
Diese Nacht war voll von den wispernden Geistern aus den Geschichten der Abuelita.
José lauschte den Stimmen im Busch und sagte sich, dass es nur die Stimmen von Tieren waren. Er schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Dies ist die Isla Maldita,flüsterte die Abuelita. Wer weiß, ob der, der dort einschläft, je wieder erwacht! Hast du nicht gesehen, dass der Wald hier tiefer und dunkler ist als auf den anderen Inseln? Sie lauern darin, sie schleichen sich näher, gerade in dieser Minute schleichen sie sich an …
»Wer denn?«, murmelte José schlaftrunken.
»Ich weiß nicht«, flüsterte Marit. »Aber sie kommen näher!«
Er fuhr hoch. Marit hatte seinen Arm umklammert und starrte in die Dunkelheit. Der Mond war abhandengekommen, die schmale Sichel des letzten Tages hatte sich nun ganz aufgelöst. Im fahlen Licht der Sterne sah José, was Marit meinte: Etwas kam aus dem Wald, etwas Geducktes. Menschen, die auf allen vieren näher krochen. Ein ganzes Dutzend. José schüttelte sich. Nein. Es waren keine Menschen. Maschinen, dachte José. Es war eine seltsam plumpe Sorte von Maschinen, die sich über den Strand bewegte, etwas, das die Deutschen erfunden hatten, aber wozu? War dies das Geheimnis der Isla Maldita? Er stand auf, näherte sich einer von ihnen, vorsichtig, Schritt für Schritt. Doch seine Schritte waren unstet und müde. Und so stolperte er im Dunkeln und schlug der Länge nach hin. Er wollte nicht schreien, es war dumm zu schreien, aber er schrie. Er war zu erschöpft und die Nacht war zu dunkel, und er hatte zu viele Geschichten über die Isla Maldita gehört und über die Deutschen und ihren Krieg.
Dann blickte er in ein uraltes Gesicht, das sich über ihn beugte. Ein Gesicht auf einem faltigen Hals, ein Gesicht mit seltsam menschlichen Augen. Josés Anspannung löste sich und er brach in ein hysterisches Lachen aus. »Es ist … Es sind … Schildkröten!«, sagte er.
Da lachte auch Marit. Die Schildkröte vor José zog den Kopf ein Stück ein. Vermutlich war sie noch nie Wesen begegnet, die so abnorme Geräusche von sich gaben.
»Ich hatte es vergessen«, sagte Marit. »Dass es sie gibt. Dass sie so unglaublich groß sind. In Mamas Buch stand, ein Mensch könne sich im hohlen Panzer einer toten Schildkröte verstecken. Und dass sie absolut friedlich sind.«
José knurrte. »Natürlich. Es gibt sie auch auf Isabela. Aber ich bin ihnen nie nachts begegnet. Warum schlafen sie nachts nicht? Schildkröten haben nachts zu schlafen.«
»Vielleicht schlafwandeln sie«, meinte Marit. »So wie ich manchmal.«
»Nein«, sagte José ärgerlich. »Das Biest, vor dem ich im Sand gelandet bin, war wach. Es hat mich angesehen. Und ich glaube, es hat gegrinst.«
Er legte sich wieder in den Sand, schloss die Augen und schlief endlich fest ein.
Als er das nächste Mal erwachte, geschah es, weil Uwe an seinem bloßen Unterarm kratzte.
»Marit«, murmelte er. »Ich glaube, dein Leguan kann nicht schlafen. Marit?«
Aber der Platz neben ihm war leer. José setzte sich auf und versuchte ganz wach zu werden. Er starrte den Abdruck im Sand an und hatte das seltsame Gefühl, wieder auf Santiago zu sein. Dort hatte er einen ähnlichen Abdruck angestarrt – in jener Nacht, in der er herausgefunden hatte, dass Casaflora für die Deutschen arbeitete.
Vielleicht schlafwandeln sie, hörte er Marit wieder sagen. So wie ich manchmal … Er sah sich um. Hielt einer von Marits Träumen sie gefangen? Er musste sie finden. Sie war dazu imstande, direkt in das schwarze Wasser zurückzulaufen. Wie seltsam, dachte er. Mal war sie eine jüngere Schwester, um die man sich kümmern musste, und mal eine ältere, die sich um ihn kümmerte. Aber die Träume, die sie träumte, waren stets die gleichen.
»Ich wünschte«, wisperte er Uwe zu, »ich könnte sie an ihrer Stelle träumen. Vielleicht wäre ich dann wirklich ein Held.«