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»José!«, rief Marit. Sie bekam einen Schwall Wasser in den Mund, hustete und spuckte. »José?«

Er war nirgendwo zwischen den Schaumkämmen der Wellen zu entdecken. War er da? Ganz in der Nähe? Oder hatte das Meer auch ihn auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?

Als José die Mariposa sinken sah, war es, als würde sein Herz mit ihr versinken.

Honigboot, dachte er, Schmetterlingsschiff. Goldarche.

Er hatte sie so geliebt.

Sie war das erste Schiff gewesen, das er ganz allein gesteuert hatte, und er hatte sie in den Untergang gesteuert. Er ließ sich von den Wogen beuteln und untertauchen, ohne sich zu wehren – er fühlte, wie sich auf seinem Gesicht Tränen mit dem Wasser des Ozeans vermischten, und er schämte sich dafür, aber niemand sah ihn weinen. Nur die Abuelita keifte in seinem Kopf. Jetzt reiß dich aber zusammen! Das ist keine Beerdigung, sondern ein Sturm! Und du hast jetzt keine Zeit zum Heulen! Willst du, dass die Unaussprechlichen dich zu ihrem Sklaven machen, dort, am Grunde des Meeres? Schwimm!

Da schwamm José, und als er etwas Hölzernes auf sich zutreiben sah, griff er danach und packte es. Es war eine der Heckbänke der Mariposa. Und darauf saß schon jemand. Uwe der Leguan. Es war ein merkwürdiges Bild, dieser kleine urzeitliche Drache mitten im Sturm auf einer losgerissenen Holzbank, aber José sah das Bild nicht lange, denn die Wellen überspülten Drache und Floß und ihn selbst jetzt unermüdlich. Während er mit dem Wasser kämpfte, dachte er in regelmäßigen Abständen einen Namen, obwohl es ihm nichts nützte, ihn zu denken. Marit!, dachte er, Marit! War sie da? Ganz in der Nähe? Oder hatte das Meer auch sie auf seinen Grund hinabgezogen, unerbittlich in seiner Gier?

Irgendwann legte sich der Sturm. Irgendwann legt sich jeder Sturm. Die Nacht breitete sich sanft und schwarz über den Pazifik, und er rollte mit langen Atemzügen alles, was sich auf seiner Oberfläche befand, nordwestwärts: Tang, Träume, Treibholz.

Zwei Stücke Treibholz waren von rechteckiger Form und das Licht einer schmalen Mondsichel kratzte ihre Umrisse ins Wasser wie Linien in schwarzes Kohlepapier. Etwas hing an diesen Treibholzstücken, etwas saß darauf, etwas klammerte sich daran. Etwas, das sich kaum noch regte. Schließlich hob es den Kopf und da war es ein Mensch. Ein Mensch, der auf dem beinahe glatten Wasser das andere Stück Treibholz sah.

»José?«, flüsterte Marit und griff nach seiner Schulter, um ihn zu schütteln.

José sah auf und blinzelte. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, ich bin es.«

Da grinste Marit. »Ist das nicht unglaublich?«, fragte sie. »Wir leben. Und sieh nur, dort!«

Sie zeigte voraus in die Nacht. Dort kam etwas Großes, Weißes herangepaddelt, und etwas Kleineres, das rosa gewesen wäre, hätte das Licht für Farben gereicht: ein Albatros und ein Flamingo. Kurz darauf tauchte vor ihnen ein Pinguin auf. Er ließ sich auf die Tür heben und sah sich etwas verwundert um.

»Nur die Seelöwin fehlt«, stellte José fest.

»Nein«, sagte Marit. »Dreh dich um.« Hinter José blinzelten zwei glänzende Augen aus einem runden Gesicht ins Mondlicht. Chispa paddelte näher und zog sich neben José auf die schmale Bank. Dort rollte sie sich auf die Seite und schlief unverzüglich ein.

Einen Augenblick wurde Marit warm und leicht ums Herz. Doch dann sah sie den Ozean in der Nacht liegen, unendlich und weit, und sie fühlte das Gleiche wie in jener Nacht, als sie von der Isabelita aus ins Wasser gefallen war: die Unmöglichkeit zu überleben.

Damals war José vorbeigekommen und hatte sie herausgefischt. Und jetzt?

»Was werden wir jetzt tun?«, flüsterte sie. »Wir sind meilenweit weg von jeder Insel. Marchena liegt einen Tag hinter uns und die Isla Maldita einen Tag vor uns, und ich weiß nicht einmal, in welcher Richtung …«

»Die Schiffe«, sagte José. »Die Roosevelt und … das andere Schiff. Sie müssen noch immer in der Nähe sein. Ist es nicht ein Glück, dass wir verfolgt werden?«

Marit sah sich um. »Ich sehe sie nicht.«

»Wenn der Morgen kommt«, sagte José, »dann wirst du sie sehen. Und sie werden uns sehen. Wer immer sie sind, sie werden uns herausfischen. Ich werde ihnen die Karte von der Isla Maldita geben.«

»Du hast die Karte noch?«, fragte Marit verblüfft.

José nickte. »Sie steckt in meiner Tasche, klein zusammengefaltet. In der wasserdichten Hülle, in der Casafloras Karte einmal war. Vielleicht erkauft sie uns den Weg auf die Roosevelt.«

Und dann wurde es Morgen, ein Morgen von der Farbe der Mariposa, hell und golden und leuchtend. Und Marit sah die Schiffe. Sie sah, wie weit weg sie waren. Sie fuhren nicht auf sie zu. Sie fuhren in der Ferne an ihnen vorbei, dicht nebeneinander jetzt. Marit und José schrien und winkten, doch sie wussten, dass es keinen Zweck hatte.

»Sie kommen schon noch«, sagte José. »Wenn sie die Mariposa nicht mehr sehen, wissen sie, dass wir irgendwo hier im Wasser schwimmen.«

Die Schiffe wechselten tatsächlich den Kurs. Aber diesmal fuhren sie auf der anderen Seite an ihnen vorbei, und noch immer war die Entfernung viel zu groß.

»Marit!«, sagte José plötzlich. »Ich weiß es jetzt! Woher ich das andere Schiff kenne! Es ist die Albatros! Die Jacht des alten Silvio, der mich nach Baltra mitgenommen hat. Ich weiß nicht, warum er uns verfolgen sollte … vielleicht hat er das Schiff jemand anderem geliehen … aber die Albatros ist ein gutes Schiff. Die Albatros wird uns finden. Bestimmt.«

Marit lag auf dem Rücken auf ihrer Tür, die Beine angezogen, Carmen auf dem Bauch. Ihre Kleider trockneten langsam und die Sonne brachte die Wärme in ihren Körper zurück. Doch die Schiffe brachte sie nicht zurück. Gegen Mittag wechselten sie zum dritten Mal den Kurs.

Was sie suchten, war zu klein, war vernichtend winzig im riesigen Blau des Pazifiks. Seine sanften Wellen waren noch immer zu hoch, sie verbargen das willenlos dahintreibende Spielzeug des Meeres gut.

Gegen Mittag fiel ein leichter Regenschauer, und Marit und José ließen das Süßwasser mit geschlossenen Augen über ihre Gesichter laufen und versuchten, so viel wie möglich davon zu trinken. Es nahm die sengende Hitze der Sonne fort und kühlte auf wunderbare Weise. Als der Regen nachließ, öffnete Marit die Augen. Und da sah sie, wie die beiden Schiffe abdrehten und davonfuhren. Sie hatten ihre Suche aufgegeben.

»Jetzt sind wir ganz allein«, sagte Marit bitter. »Ganz allein mit der Sonne und dem Ozean. Und einer Handvoll Tieren, die uns auch nicht helfen können.«

»Nein«, sagte José. »Wir sind nicht allein. Wir sind zu zweit. Vergiss das nie.«

Wie viele Bücher hatte Marit über Schiffbrüchige gelesen! Über die unbarmherzig herabbrennende Sonne. Über die Wasserknappheit. Den Hunger auf den Rettungsbooten. Den Kannibalismus, der letztlich ausbrach. Den Mut, den die Schiffbrüchigen bewiesen. Es war alles gelogen.

Marit wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, eines der Tiere aufzuessen, die mit ihnen unterwegs waren. Die Tür, auf der sie lag, schaukelte auf eine seltsam unstete Weise, und wenn Marit irgendetwas in ihrem Magen spürte, dann Übelkeit. Sie konnten auch keinen Mut beweisen, denn es gab nichts, was sie hätten tun können. Das einzig Wahre, was in den Büchern gestanden hatte, war die sengende Sonne. Sengend. Erst jetzt begann sie das Wort zu begreifen.

Es war die hellste Art, hell zu sein, die heißeste Art, heiß zu sein, die unausweichlichste Art, unausweichlich zu sein. José zog sein Hemd aus, um damit seinen Kopf zu schützen, wie damals auf der Mariposa. Und Marit stellte voller Erstaunen fest, dass sie noch immer eine karierte Mütze in der Tasche hatte. Wenn sie gegen Wind und Regen in Europa half, warum sollte sie nicht gegen die Sonne des Pazifiks helfen?

Sie half nicht. Die Sonne durchbohrte den Stoff mit ihren Strahlen und dörrte die Körper auf dem Ozean aus, sie spiegelte sich tausendfach auf der Wasseroberfläche und stach in die Augen, stach ins Gehirn. Und dann kam die Nacht und mit der Nacht kam die Kälte.

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