Die beiden Schiffe waren nicht näher gekommen.
»Es ist jetzt in Ordnung«, sagte José und legte eine Hand auf Marits Schulter. »Der Vulkan ist zu weit weg. Wir haben es geschafft. Marit?«
Marit schwieg. Er drehte ihr Gesicht behutsam zu sich. Sie sah ihn nicht. Ihre Augen glichen einem erblindeten Spiegel, einer beschlagenen Glasscheibe. Und da ahnte José, was geschehen war. Er schüttelte Marit. »Du siehst nicht die Insel, nicht wahr?«, fragte er. »Du siehst die Häuser. Es sind keine Häuser, Marit! Es ist nur Gebüsch! Wach auf! Rede mit mir!« Und dann griff er über die Reling, schöpfte eine Handvoll Wasser – noch immer zu warmem Wasser – und warf es ihr ins Gesicht.
Marit blinzelte und schnappte nach Luft. Ihre Augen sahen ihn jetzt. Doch sie klammerte sich noch immer an Kurt.
»Sie waren da«, sagte sie, und plötzlich begann sie so schnell und hektisch zu reden, dass José sie kaum verstand, wirr und zusammenhanglos. »Sie waren alle da! Ich habe sie gesehen … Dies war die Nacht, die ich nicht erlebt habe. Das Feuer, das ich nicht gesehen habe, weil ich bewusstlos in einem Luftschutzkeller lag. Ich habe das Feuer damals nicht gesehen, aber es hat auf mich gewartet. Es hat hier auf mich gewartet. Ich habe mich umgedreht … José, ich dachte, ich hätte mich damals nicht umgedreht, aber ich habe. Ich erinnere mich jetzt. Bevor ich an die Tür gehämmert habe, bevor Richard mich hineingelassen hat. Jetzt weiß ich es wieder! Mama und Julia – sie sind auf die Straße hinausgelaufen. Vielleicht war es wegen Richard, weil Mama dachte, dass er sie nicht hineinlassen würde. Nur mich. Er wollte mich immer küssen … er war widerlich … Und dann hat er mir später aus den Trümmern des Hauses herausgeholfen …
Aber Mama hätte er nicht in den Keller gelassen … Ich habe nach ihr gerufen. Da war ein Motorengeräusch, laut, wie von einem Auto, zu laut … Sie haben mein Rufen nicht gehört …
Der Fliegeralarm war noch lauter … Ich habe noch einmal gerufen, und dann habe ich an die Tür gehämmert. Ich hätte Mama und Julia nachlaufen sollen, sie mit in den Keller schleifen, José, ich hätte … aber ich war zu feige!«
»Nein«, sagte José. »Du warst ein Mal vernünftig.«
»Was nützt es denn, vernünftig zu sein?«, rief Marit. »Wenn doch jeder außer mir tot ist! Und jetzt ist Waterweg auch tot und Casaflora und alle Strandkrabben und überhaupt jeder …«
»Ich nicht«, sagte José. »Ich bin lebendig.«
»Ja«, sagte Marit leise. »Ja, das bist du.«
Sie brach in Tränen aus. Ohne jede Vorwarnung. Es war, als wäre ein Vulkan aus Salzwasser ausgebrochen. Nein, wie der Niño, jener sintflutartige Regensturm, der alle paar Jahre im Winter die Inseln überfiel. Doch im Gegensatz zum Niño weinte Marit lautlos. Nicht einmal ihre Schultern zuckten.
José begriff, dass sie alle Tränen weinte, die sie bisher nicht geweint hatte.
Echte Männer, hatte José sagen hören, wussten nicht, was sie dagegen tun sollten, wenn Frauen weinten. Er hoffte, es war kein Zeichen von fehlender Männlichkeit, dass es ihm nicht so ging. Er wollte gar nichts gegen Marits Tränen tun. Sie waren in Ordnung, sie mussten geweint werden, so wie der Regen des Niño fallen und die Vulkane ausbrechen mussten.
Für einen Moment fragte er sich, ob die Tränen die Mariposa wohl versenken könnten. Es war eine sehr schwere Sorte von Tränen: getränkt mit Asche und Glut, mit tausend Kilometern einer schweigenden Reise. Aber die Mariposa war auch eine sehr starke Sorte von Boot: gefirnisst mit dem Sonnenschein von tausend Äquatortagen.
Nach einer sehr langen Zeit hörte Marit genauso abrupt auf zu weinen, wie sie angefangen hatte. Sie wischte sich die letzten Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht und blinzelte.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
»Ist okay«, sagte José. »Nur … lass jetzt vielleicht den Albatros los. Du erdrückst ihn.«
Sie lachte. »Das ist es, was man hören will, wenn man weint«, sagte sie. »Keine geheuchelten Mitleidsreden. Sondern genau diesen Satz: Lass jetzt den Albatros los.«
Und plötzlich gähnte sie.
»Schlaf«, sagte José. »Leg dich in die Kajüte und schlaf. Es war eine lange Nacht. Ich übernehme die erste Wache.«
»Aber es ist Morgen! Schau, die Sonne geht gerade auf.«
»Na und?«, sagte José und grinste. »Ist das etwa unsere Schuld?«
Als Marit die wenigen Stufen hinunterstolperte, sah er, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Der Wasserleguan, der neu zur Arche gestoßen war, folgte ihr auf trägen Echsenfüßen. José versuchte, nicht daran zu denken, wie müde er selbst war. Er war ein Mann, er musste wach bleiben. Zum ersten Mal seit Beginn ihrer Reise wünschte er sich für einen kurzen Moment, kein Mann zu sein.
Er hob den Kopf und wollte die Morgensonne ansehen, doch eine schwarze Wolke bedeckte sie, eine Wolke, die der Wind von Marchena herantrug. Und dann begann es Asche zu regnen. Der Vulkan schickte seinen letzten Abschiedsgruß, ehe er sie gehen ließ.
Marit tastete sich durchs Dunkel der Kajüte und ließ sich auf die Steuerbordbank fallen, ohne auch nur die Schuhe auszuziehen. Sie schlief nach Sekunden. Sie hatte so sehr gehofft, nichts zu träumen. Aber noch waren ihre Träume nicht fertig mit ihr. Sie träumte von Richard.
Es war Sommer und die Hitze kochte in den Straßen. Die hohe Sonne leuchtete die zerbombten Häuser grell aus wie Theaterkulissen. Das erste Gras wucherte bereits zwischen den Wänden. Im Traum saß Marit auf einem Stück Mauer, das früher ihre Haustür enthalten hatte, und warf Kieselsteine nach einem vergessenen Blechnapf. Es war nur die Puppe Marit, die sinnlose Kiesel warf.
»Hallo, Marit«, sagte Richard, und die Puppe zuckte zusammen, denn obwohl sie nicht sprechen konnte, konnte sie doch ganz gut hören. Richard musste sich angeschlichen haben. Er setzte sich neben sie auf die Mauer.
»Es war jemand hier«, sagte er. »Heute Morgen. Hat nach dir gefragt. Willst du nicht wissen, wer das war?«
Marit traf den Blechnapf.
»Willst du nicht? Ich könnte es dir sagen. Aber du redest ja nicht mit mir.«
Marit traf ein zweites Mal.
»War so ein Mann, der sagte, er kennt dich, aber als ich gefragt hab, woher, da hat er angefangen zu stottern. Ich glaub, ich hab ihn schon mal hier gesehen. Verwandter vielleicht? Sein halbes Gesicht steckte unter einem Verband, aber er hatte solche Augen wie du. Hager war er und blass wie der Tod. Sah unheimlich aus.«
Marits Stein prallte am Rand des Blechnapfs ab.
»Wollte wissen, wo du jetzt wohnst«, sagte Richard. »Weiß nicht, ob ich ihm das Richtige gesagt hab. Ich dachte, vielleicht willst du nicht, dass er weiß, wo du wohnst.«
Marit sah ihn zum ersten Mal an. Er versuchte schlau zu lächeln. »Ich hab ihm gesagt, du wärst tot. Bei dem Bomben-angriff umgekommen.«
Da nickte die Puppe Marit, ganz langsam. Vielleicht hatte die Puppe eine Idee, wer der Mann gewesen sein könnte. Ein Onkel, zum Beispiel, ein Onkel, mit dem ihre Eltern seit einer ganzen Weile nicht gesprochen hatten, weil er zu denen gehörte, die den Krieg wollten. Wenn er in seiner Uniform gekommen wäre, hätte Richard ihm die Wahrheit gesagt. Dann hätte Richard ihm alle Wahrheiten gesagt, die er hören wollte, und noch ein paar dazuerfunden, nur um ihm zu gefallen. Aber das dachte die Puppe nur sehr, sehr tief unter ihrer Puppenoberfläche.
»Wenn ich das richtig gemacht habe, verdiene ich eigentlich ein Dankeschön«, sagte Richard. »Einen Kuss, zum Beispiel.«
Da rutschte die Puppe von der Mauer und ging davon.
»Wenn das nächste Mal einer nach dir fragt, dann hetz ich ihn dir auf den Hals, Miststück!«, schrie Richard ihr nach.
Seine Worte hallten noch in ihren Ohren, als sie aufwachte. Eine Weile lag sie mit geschlossenen Augen in der Dunkelheit und dachte daran, dass ein paar Wochen später ein gewisser Thomas Waterweg bei Frau Adams Schwester aufgetaucht war, um seine Nichte mit in Richtung der Galapagosinseln zu nehmen. Aber warum hatte er sich einen Verband übers halbe Gesicht geklebt, als er zuerst nach ihr gefragt hatte? Und warum hatte er zwischen den beiden Versuchen, sie zu finden, ein paar Wochen verstreichen lassen? Es ergab keinen Sinn. Je häufiger sie über die Stücke ihrer Erinnerung nachdachte, desto weniger Sinn ergaben sie. Überall schien etwas zu fehlen, etwas verborgen zu sein, etwas nicht zusammenzupassen.