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»Doch«, sagte José, »das begreife ich sehr gut. Aber Sie könnten segeln. Zurück nach Isabela.«

Casaflora schnaubte. »Segeln? Die Mariposa ist ein braves altes Schiff, aber sie ist winzig. Es wäre Selbstmord, im Notfall auf ihre Segel zu vertrauen.« Er sah José an. »Außerdem«, fügte er hinzu, »interessiert es mich inzwischen auch, was ihr auf eurer verfluchten Insel finden werdet. Vielleicht hat es etwas mit mir zu tun. Und mit dem Krieg. Mehr, als ich dachte.«

Die Seelöwen umringten das Schiff noch immer. Sie schienen auf José und Marit zu warten.

»Wie lange wird es dauern, die Schraube zu …?«, begann José.

»Frag mich nicht so was!«, fauchte Casaflora. »Tage? Wochen? Monate? Lasst mich jetzt allein mit dem verfluchten Ding! Ich komme nach, an Land. Ein paar Tage müssen wir sicher hierbleiben.«

Marit vergewisserte sich, dass Casafloras Pistole, die sie immer noch trug, sicher in ihrer Tasche steckte. Dann sprang sie über Bord, mitten zwischen die Seelöwen. Sie hatte gedacht, die Tiere würden erschrecken und fliehen – doch stattdessen kamen sie näher, schwammen neben Marit her, stupsten sie mit ihren Schnauzen an und machten japsende Geräusche wie junge Hunde, die spielen wollen.

Marit drehte sich um. »José!«, rief sie. »Bring Oskar mit!«

»Natürlich«, sagte José und seufzte.

Kurz darauf sprang er mit dem Pinguin im Arm ins Wasser. Kurt der Albatros und Eduardo der Flamingo folgten. Zum Schluss sprang etwas sehr Kleines von der Reling und landete auf Kurts Rücken: Carmen. Hoffentlich sah Kurt auf dem Weg bis zum Strand davon ab, ein längeres Stück zu tauchen.

Die Seelöwen begleiteten sie bis an Land, robbten mit ihnen aus dem Wasser und konnten sich an ihren neuen Besuchern offenbar nicht sattsehen. »Ihnen muss ziemlich langweilig sein, so allein hier«, meinte Marit und lachte. Ein junger Seelöwe warf sich vor ihr auf den Rücken und ließ sich am Bauch streicheln. Es war zu seltsam.

Noch seltsamer war allerdings, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Marit merkte, dass sie beim Gehen schwankte, ähnlich wie Oskar. »José!«, rief sie kichernd, »du schwankst ja auch! Du siehst aus, als wärst du besoffen!«

An jenem ersten Tag auf Marchena wurde ihre Reise zu einem Spiel, wie Zelten im Freien: José schoss im Busch einen Vogel, den sie über ihrem Feuer brieten. Marit holte einen Kanister mit Trinkwasser vom Schiff. Es waren nur noch drei Kanister da. Es wird regnen, sagte sie sich, es wird regnen. Sie wollte sich nicht schon wieder Sorgen machen.

Sie wollte am Feuer sitzen und über die rot-schwarzen Inseldrachen lachen, die Leguane, die sie aus ihren uralten Augen beobachteten. Einer davon, ein ganz kleiner, saß mitten auf dem Kopf eines größeren, den er für einen idealen Aussichtspunkt hielt. Er wunderte sich sicher über den Pinguin und den Flamingo, die mit den Schnäbeln tief in einer Suppendose steckten …

Casaflora hatte sein eigenes Feuer, ein Stück weiter weg. Er hatte die Schiffsschraube tatsächlich ausgebaut und mitgenommen, um sie mit einem Stein von der Insel wieder zurechtzuklopfen. Aber auch über die Schraube wollte Marit sich an diesem Abend keine Gedanken machen.

»Ist es nicht wunderbar?«, fragte sie, als sie auf dem Rücken im Sand lag und die Sterne ansah. «Ist es nicht wunderbar, über Leguane zu lachen? Ist es nicht wunderbar zu leben?«

»Ja«, antwortete José. »Das ist es.«

Und Marit schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein, tief und fest und völlig traumlos.

José lag noch lange wach. Nicht weit entfernt träumten die Seelöwen auf dem Strand.

Und hoch oben krochen die Sternbilder über den Himmel wie in jeder Nacht. Aber diesmal brauchte er sie nicht, um ein Schiff zu steuern. Wann würde die Mariposa wieder unter jenen Sternbildern segeln? Würde Casaflora es schaffen, die Schiffsschraube zu reparieren? Und wenn nicht?

Neben der Feuerstelle stand der Wasserkanister. Es war nicht mehr viel darin. José spürte den Durst in seiner Kehle, er streckte die Hand aus – und ließ sie sinken. Nein. Sie mussten sparsam sein. Der flache Kegel des kleinen Vulkans lag im Mondlicht wie ein schlafendes Tier. Vielleicht gab es dort irgendwo Wasser. Eine Quelle, von der noch niemand wusste. Regenwasser, das sich in Vertiefungen des Gesteins gesammelt hatte.

Er betrachtete seine schlafende Schiffsmannschaft: Auf Marits Bauch schnarchte zusammengerollt die Ratte Carmen, an ihre eine Seite hatte sich Oskar gedrängt, an die andere Kurt der Albatros. Eduardo saß an Marits Kopf gelehnt wie eine seltsame Nachtmütze aus rosafarbenen Federn. Etwas in José zog sich schmerzhaft zusammen, als er dieses merkwürdige Bild betrachtete, und die Sorge wuchs in ihm wie ein Krebsgeschwür.

»Meine kleine, ungewöhnliche Familie«, flüsterte er. »Ich werde Wasser für euch finden. Und die Schiffsschraube wird wieder funktionieren. Und wir werden die Isla Maldita erreichen, bald schon, ganz bestimmt. Und dann …«

Ja, was dann?,fragte die Abuelita in seinem Kopf. Dann lieferst du deine ungewöhnliche Familie dem aus, was dort umgeht. Den Geistern der Piraten. Oder einer anderen Sache, die noch viel gefährlicher ist. Sie begleiten dich wie treue, naive Kinder, sieh sie dir nur an! Und sieh mal nach links, wo ein anderes Feuer verglimmt. Casafloras Feuer. Du weißt immer noch nicht, wer er ist. Er wartet. Er wartet darauf, dass du unaufmerksam wirst …

»Unsinn«, sagte José. »Er schläft. Sei still!« Auf einmal fiel José die Karte ein. Jene andere Karte, die Casaflora besaß.

José hängte das Gewehr über seine Schulter, nur für alle Fälle, stand auf und schlich lautlos den Strand entlang. Casaflora atmete gleichmäßig. Sein Atem roch nach dem Rum, den Marit damals zum Desinfizieren des Pinguins benutzt hatte. Offenbar hatte er den Rest der Flasche geleert, um seinen Ärger über den Motor zu vergessen. Er schlief fest, und das war auch gut so. Denn sein Kopf lag auf einem Seesack, den José bisher nicht gesehen hatte. Vermutlich hatte er irgendwo in der verborgenen Koje gelegen.

Die Karte. In diesem Seesack musste die Karte sein.

Er kniete nieder, streckte die Hand aus, vorsichtig, ganz vorsichtig … Bist du nicht bei Trost?,schalt die Abuelita. Er wird aufwachen und so schnell kannst du niemals dein dummes Gewehr auf ihn richten …José versuchte die Abuelita aus seinem Kopf zu schütteln, zurück auf die Farm, wo sie hingehörte. Er hatte es jetzt geschafft, den Seesack unter Casafloras Kopf hervorzuziehen. Casaflora regte sich im Schlaf, murmelte etwas, nicht auf Spanisch, sondern in jener anderen, harten Sprache, die vielleicht Deutsch war. José tastete in dem Seesack. Er fand schmierigen Stoff … und kaltes Plastik. Kein Papier. So gründlich er auch tastete, da war keine Karte. Schließlich zog er das Plastikstück hervor und musste sich zusammenreißen, um nicht triumphierend zu pfeifen. Das Stück Plastik war nur eine Hülle. Natürlich. Eine Hülle, die den Inhalt gegen das Seewasser schützte. Darin befand sich ein vielfach gefaltetes großes Blatt Papier.

José nahm es und versuchte im schwachen Mondlicht etwas darauf zu erkennen. Das Papier war mit mehreren Zeichnungen bedeckt, Zeichnungen, die aus einem verwirrenden Durcheinander von Linien bestanden. Am Rand standen Erklärungen in einer winzigen Schrift und einer anderen Sprache. Deutsch. Und dann erkannte José die Umrisse auf einer der Zeichnungen: Es waren Inseln im Meer. Die Galapagosinseln. Auf einer anderen Zeichnung entdeckte er die Küstenlinien Mittelamerikas: Ecuador, Panama ……Auf zwei anderen Zeichnungen waren einzelne Inseln zu sehen. Eine davon war Bartolomé. Der Pinnacle Rock war auf Englisch eingetragen. Der Pinnacle Rock, auf den die Amis ihre Proberaketen abschossen.

Irgendwo auf diesem Blatt Papier, dachte José, musste auch die Isla Maldita sein. Aber er fand nirgends etwas, das dem Umriss auf seiner eigenen Karte glich. Dafür fand er Baltra. Die Insel war übersät mit kleinen Vierecken, Gebäuden voller Erklärungen in der winzigen Schrift. Er fand sogar die Landebahn.

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