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Aber als sie oben im Schrank nachsahen, war kein Bärenpullover da. Mama fiel plötzlich ein, dass sie ihn wohl in die Wäsche getan hatte, und sie las ihnen weiter aus dem großen Buch über die Galapagosinseln vor, damit der Teddybär vergaß, dass er an diesem speziellen Frühlingstag fror.

»Wusstet ihr überhaupt«, sagte sie, »dass mein Professor Blumenhaus dieses Buch geschrieben hat? Ich wette, er ist jetzt dort und sucht nach seinem Schmetterling.«

Am nächsten Tag hing der Teddybärenpullover im Hof auf der Leine, aber Marit kam die ganze Sache komisch vor. Sie ließ sich von Geschichten über Professoren auf Schmetterlingsjagd nicht so leicht ablenken wie Julia. Als Mama einkaufen war, versuchte sie noch einmal allein, durch das Fenster zu klettern. Doch Richard aus dem Nachbarhaus erwischte sie dabei und pflückte sie vom Fenster.

»Hey, Kleine«, sagte er und setzte sie auf den Boden. »Es ist verboten, durch die Fenster von irgendwelchen Schuppen zu klettern.«

Sie sah in sein grinsendes Gesicht und schwieg.

»Ich bin der Blockwart«, sagte Richard. »Ich passe hier auf, schon vergessen?« Er beugte sich zu ihr, sodass seine Lippen ihre Wange berührten. »Und auf dich passe ich ganz besonders auf«, flüsterte er.

Der Traum verfolgte Marit den ganzen Tag, und vor allem waren es Richards Lippen, die sie verfolgten. Es schüttelte sie, an Richard zu denken. Dennoch hätte José mit einem wie Richard sicher mehr gesprochen als mit ihr.

An diesem Abend saß der Alte am Steuer. José saß im Bug und rauchte eine von Casafloras Zigaretten. Sie hockte sich neben José, nahm ihm die Zigarette weg, um daran zu ziehen – und musste zu ihrem eigenen Ärger wieder husten.

»Was soll denn das?«, sagte José gereizt und griff nach der Zigarette. »Das ist nicht gut für dich.«

»Ach nein? Neulich wolltest du es mir beibringen. Das Rauchen.«

Er erwischte die Zigarette und nahm sie ihr ab, mit etwas mehr Gewalt als nötig. »Zigaretten sind nichts für Mädchen.«

»Ach so«, sagte Marit. »Aber Leute vor einer Rakete retten, die in einen Felsen einschlägt, das ist was für Mädchen, ja? Und Leute im Wald aufsammeln, wo sie sich bewusstlos schlagen lassen? Und nachts allein ein Schiff steuern, während Leute unter Deck liegen und ihre Beinahe-Gehirnerschütterung ausschlafen? Das ist wohl alles etwas für Mädchen?«

Carmen kroch aus ihrem Ärmel, wo sie in letzter Zeit fest zu wohnen schien, und blitzte José aus ihren Knopfaugen an, als wollte sie Marit unterstützen.

José seufzte.

»Ich fürchte, es gibt nur zwei Möglichkeiten«, sagte Marit. »Entweder fahren wir zusammen zu dieser Insel und bekommen heraus, was die Karte bedeutet. Oder … du fährst allein. Aber wenn wir zusammen fahren, musst du wieder mit mir reden! Ich meine: mehr als ein paar Worte. Du musst vergessen, dass ich ein Mädchen bin.«

Er sah sie an. Schüttelte den Kopf. »Nein. Das kann ich nicht.«

»Dann musst du allein weiterfahren. Und ich bleibe hier.«

»Wo hier

Sie wies auf den Ozean hinaus. »Irgendwo hier. Das war es, was ich von Anfang an wollte, erinnerst du dich? Ich muss dir nicht helfen, deine verfluchte Insel zu erreichen.«

»Du bist ja verrückt«, sagte José. »Willst du jetzt schon wieder ins Wasser springen? Ist das eine Erpressung?«

»Nein«, sagte Marit und stand auf. »Eine Entscheidung. Deine Entscheidung.«

Sie wusste, dass José recht hatte. Es war eine Erpressung. Sie hatte nicht mehr vor zu sterben. Aber irgendetwas musste sie tun, irgendetwas musste sie sagen! Sie machte einen Schritt auf die Reling zu und José riss sie zu Boden. Eine Weile rangen sie miteinander, wie sie es schon einmal getan hatten, vor ein paar Tagen erst. Damals, als José gedacht hatte, Marit hätte sein Gewehr verschwinden lassen. Damals, als Juan Casaflora noch ein Toter gewesen war.

»Beiß und kratz ruhig«, sagte José. »Jetzt weiß ich ja Bescheid.«

Und das machte Marit wütender, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie spürte, wie ihre Faust in Josés Gesicht landete, und erschrak. Diesmal dauerte es eine Weile, bis er sie auf die Decksplanken drückte.

»Du bist … du bist stärker geworden«, keuchte er.

Marit grinste. »Ja. Ich glaube.«

»Das wird ein blaues Auge.« José setzte sich auf, hob die halb gerauchte Zigarette auf und zündete sie wieder an. Dann gab er sie Marit. Marit sah die Zigarette an.

»Danke«, sagte sie. »Die sind scheußlich. Meinst du nicht, es kommt auf andere Dinge an?«

»Es kommt darauf an, dass du bleibst«, sagte José ernst. »Und dass du mit mir zur Isla Maldita fährst. Allein werde ich es nicht schaffen. Ich kann nicht vergessen, dass du ein Mädchen bist. Aber wenn du willst, kannst du meine Schwester sein. Eine ziemlich verrückte und ganz und gar dickköpfige Schwester. Aber eine Schwester. Mit einer Schwester kann man vielleicht reden wie mit einem anderen Mann.«

»Gut«, sagte Marit. »Ich werde einen ziemlich verrückten und ganz und gar dickköpfigen Bruder haben. Aber einen Bruder.«

Als Marit José gegen Ende der nächsten Nacht am Steuer ablöste, saß Casaflora an Deck und streichelte den schlafenden Albatros. »Ich kann nicht schlafen«, sagte er auf Deutsch.

»Ich habe Ihre Pistole in der Tasche«, antwortete Marit auf Spanisch.

Casaflora nickte. »Natürlich. Und du denkst, du könntest damit umgehen.«

Marit antwortete nicht. Sie spürte die warme Lebendigkeit von Carmen in ihrem Ärmel und auf eine seltsame Weise beruhigte sie das. Mehr als die Pistole.

»Wir sind nicht mehr weit von Marchena«, sagte Casaflora schließlich. »Was wirst du dann tun?«

»José helfen«, antwortete sie. »Ich fahre mit ihm weiter.«

»Ja«, sagte Casaflora. »Das werden wir alle tun. Denn auf Marchena gibt es kein Wasser.«

»Es wird wieder regnen.«

Casaflora seufzte. »Vielleicht.« Er legte seine Hand auf ihre, auf die Hand, mit der sie steuerte. Die rechte. Marit wurde kalt. Die Pistole steckte in ihrer rechten Tasche. Sie würde sie nie mit der linken Hand hervorziehen können. Idiotin!

»Au, verdammt!«, zischte Casaflora und zog seine Hand zurück. »Was war das?« Ein paar feine Schnurrhaare kitzelten Marits Unterarm.

»Das«, erwiderte sie lächelnd, »war eine endemische Galapagos-Reisratte. Sie hat einen unfehlbaren Sinn dafür, im richtigen Moment einzugreifen.«

»Ich wollte dich nur etwas fragen«, knurrte Casaflora.

»Ja?«

»Weshalb bist du hier? Erzähl mir nicht, du bist zufällig von einem Schiff gefallen und hast dich vor dem Bug der Mariposa wiedergefunden.«

Marit unterdrückte ein Lachen. »Und wenn ich Ihnen sage, dass es genau so war?«

»Das kannst du deinem kleinen Freund erzählen.«

»Er ist nicht mein Freund.«

»Nicht?«, fragte Casaflora.

»Er ist mein Bruder«, sagte Marit.

»Dein Bruder?« Sie sah ihn im Dunkeln den Kopf schütteln. »Du erzählst nur Unsinn.«

Marit seufzte. »Unsinn ist manchmal ganz hilfreich«, sagte sie. »Aber bitte. In Wahrheit ist ein alter Professor daran schuld, dass ich hier bin. Ein Professor für Zoologie, den ich nie gesehen habe. Blumenhaus. Meine Mutter hat bei ihm studiert, ehe sie mich bekam. Blumenhaus war auf den Inseln gewesen. Er hat seinen Studenten damals so viel davon erzählt, dass meine Mutter anfing, sich selbst dorthin zu wünschen. Professor Blumenhaus wollte auch wieder zurück, hat sie gesagt. Er war einem seltenen Schmetterling auf der Spur, den es vielleicht nur auf den Galapagosinseln gibt.«

Casaflora lachte trocken. »Muss lange her sein«, sagte er. »Als sich die Leute noch Gedanken über Schmetterlinge machten.«

»Ja«, sagte Marit leise. »Es ist wohl lange her.« Sie sprach noch immer spanisch. Sie wusste nicht, ob José zuhörte. Und überhaupt wollte sie auch gar nicht deutsch sprechen. Am besten nie wieder, bis zu ihrem Tod. Der Tod war natürlich durch und durch deutsch, mit ihm würde sie nicht spanisch sprechen. Aber sie hatte nicht vor, ihm so rasch zu begegnen. Nicht mehr. »Der Professor … er ist irgendwann aus der Stadt verschwunden«, fuhr sie fort. »Und meine Mutter stellte sich gern vor, er wäre wirklich zurückgekehrt zu den Inseln. Er war ihr einziges Vorbild. Das ist doch seltsam, nicht wahr, wo er ein Mann war und viel älter? Sie hätte so gern zu Ende studiert. Sie wäre so gern auch ein Forscher geworden. Sie wollte zu den Inseln fahren und den Schmetterling finden, zusammen mit dem Professor. Es war ein Traum. Sie hatte so viele Träume …« Ihre Stimme verlor sich in der Dunkelheit.

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