Jonathan seufzte. Und dann sagte er zu Josés Überraschung: »Ich hasse ihn.«
»Du … hasst ihn?«
Jonathan nickte grimmig. »Ihn haben sie nicht in den Krieg geschickt. Er hatte gute Kontakte. Ihn hat niemand in Frankreich abgeschossen. Er weiß, wie man sich davor drückt, gefährliche Dinge zu tun …«
»Halt!«, sagte José. »Kontakte zu wem?«
»Zu den Nationalsozialisten.«
»In England gibt es Nationalsozialisten?«
»Nein«, sagte Jonathan. »Doch.« Er verhaspelte sich zusehends und die Abuelita hob misstrauisch einen Zeigefinger. »Er hat … er hatte… Kontakte zu den deutschenNationalsozialisten. Vor dem Krieg. Deshalb haben Mama und er nicht mehr miteinander gesprochen. Er … er kann sogar Deutsch. Weißt du, ich bin mir nicht so sicher, warum er hergekommen ist. Vielleicht hat es nichts mit Mamas altem Traum zu tun. Er wollte jemanden treffen. Einen Freund, hat er gesagt. Auf Isabela. Wir haben gewartet. Erhat gewartet. Der, den er treffen wollte, kam nicht. Schließlich sagte Waterweg, wir sollten ihm besser entgegenfahren. Deshalb sind wir mit der Isabelita nach Baltra gefahren. Nach Baltra, wo der Militärstützpunkt der Amis ist.«
»Und … was schließt du daraus?«
»Das ist offensichtlich, oder? Er spioniert. Für die Deutschen.«
»Das ist verrückt. Ein Engländer? Für die Deutschen?«
»Ja«, sagte Jonathan. »Das ist verrückt. Der Krieg ist verrückt. Waterweg ist vielleicht nicht ganz so verrückt. Geld ist Geld. – Dein Fisch brennt an.«
José fluchte und wendete den Fisch in der kleinen Aluminiumpfanne.
»Diese Karte«, sagte Jonathan. »Kann es sein, dass auch Waterweg hinter der Karte her ist?«
»Vermutlich«, antwortete José düster.
»Was … was ist eigentlich darauf? Hast du sie dir angesehen?«
»Natürlich«, sagte José. »Der Umriss der Isla Maldita. Eine Menge Linien. Ein bisschen unlesbares Gekritzel. Und ein Kreuz.«
»Ein Kreuz?«
»Ja, ein verdammtes Hier-ist-der-Schatz-Kreuz. Sie sieht aus wie eine Karte aus einem Kinderspiel. Ich begreife nicht …«
»Und wenn es Tarnung ist?«, fragte Jonathan ernst. »Wenn es Absicht ist, dass sie aussieht wie eine Karte aus einem Kinderspiel?«
»Angenommen, sie hätte wirklich etwas mit dem Krieg zu tun«, sagte José. »Wie konnte mein Urgroßvater sie dann schon besitzen? Mein Vater hat gesagt, er habe sie von der alten Karte abgezeichnet, mit der mein Urgroßvater zur Isla Maldita aufgebrochen ist.«
»Ja«, sagte Jonathan. »Das hat er gesagt. Weißt du, ob es stimmt?«
»Du meinst … er hat mir diese Karte … untergejubelt? Warum?«
»Bei dir hätte niemand danach gesucht. Du hättest sie mit nach Isabela genommen, zu eurer Farm. Dein Vater konnte ja nicht wissen, dass du die Mariposa klaust.«
»Ich habe sie nicht geklaut!«, rief José ärgerlich. »Sie gehörte keinem. Jetzt gehört sie mir! Sie … sie hat sogar auf uns gewartet, heute Morgen. Und sie hat sich selbst aus den Felsen befreit. Es ist, als wollte sie mit mir zur Isla Maldita segeln. Mit … uns.« Er fuhr mit der Hand über das honigfarbene Holz der Reling. »Überhaupt, es ergibt keinen Sinn. Wenn mein Vater eine Karte besaß, die er vernichten wollte, dann hätte er das ebenso gut selbst tun können. Und weshalb besaß er sie überhaupt? Was ist darauf eingezeichnet? Was gibt es auf der Isla Maldita, das wichtig für den Krieg ist?«
Jonathan zuckte die Schultern. »Ich nehme an, das finden wir heraus, wenn wir da sind.«
José übergab ihm das Steuer und stand auf. »Sieh du dir die Karte mal an«, sagte er. »Vielleicht siehst du mehr darauf als ein Kinderspiel.«
Er ging in die Kajüte hinunter und griff in seinen Rucksack. Die Karte lag ganz unten, säuberlich gefaltet. Er hatte sie lange nicht mehr angefasst. Jetzt tastete er, fühlte den rauen Stoff des Rucksacks, aber keine Karte. Er holte seine Kleider aus dem Rucksack und drehte ihn um. Nichts. Hatte er sich geirrt? Hatte er die Karte in die kleine Seitentasche gesteckt, in der er auch die Pistole verwahrte? Nein. Die Seitentasche war leer. Es war keine Karte darin. Auch keine Pistole.
José schluckte. Er griff unter den Tisch, wo er sein Gewehr abgelegt hatte. Er war nicht wirklich erstaunt, den Platz dort leer vorzufinden.
Was habe ich dir gesagt?,wisperte die Abuelita. Du hättest ihn nicht an Bord nehmen sollen. Er erzählt Lügengeschichten. Die Geschichte von dem Toten in der Nacht– hast du die geglaubt?
Du bist es doch, die an Geschichten von Toten glaubt, entgegnete José stumm.
Das ist etwas anderes,sagte die Abuelita. Der da an Bord, der gerade am Steuer sitzt … der tut, als wäre er schwach und unschuldig, erzählt rührende Sachen über seine tote Familie …
José ging zurück an Deck, setzte sich auf die Bank Jonathan gegenüber und musterte ihn eine Weile schweigend. Ein hübscher Kerl, hatte die Abuelita gesagt. Es war wahr. Sein Gesicht war zerkratzt und zerschunden, doch es wirkte noch immer zerbrechlich, ebenmäßig, fein, wie aus Porzellan. Der Wind zerzauste sein helles Haar, und seine blauen Augen waren konzentriert auf den Kompass gerichtet. Schöne Menschen sind gefährlich, dachte José. Sie haben es leicht, einen für sich einzunehmen. Jeder denkt, schöne Menschen wären gute Menschen.
Die Narbe an Jonathans Stirn machte ihn nur noch sympathischer. Vielleicht war diese Narbe nicht einmal echt. José streckte die Hand danach aus und berührte sie.
Jonathan zuckte zurück. »Was soll das? Was ist mit der Karte? Wolltest du sie nicht holen?«
»Du weißt genau, dass ich sie nicht holen kann«, erwiderte José. »Weil sie nicht mehr in meinem Rucksack ist.«
Blitzschnell legte er einen Arm um Jonathans Hals und nahm ihn in den Schwitzkasten.
»Was … ?«, keuchte Jonathan.
»Hast du gedacht, ich merke es nicht?«, fragte José. »Es war alles gelogen, von vorn bis hinten. Du bist nicht schnell genug. Irgendwo in deiner Tasche ist die Pistole, nicht wahr? Aber du bist nicht schnell genug.«
Jonathan wand sich, doch José wusste, dass er stärker war. Er fuhr mit der freien Hand über die Narbe und Jonathan zuckte wieder zusammen. Womöglich war sie doch echt. Aber das hieß nichts. »Wo hast du sie?«, fragte José kalt. »Die Karte? Und wo hast du mein Gewehr versteckt? Oder hast du es über Bord geworfen? Wer bist du? Wieso bist du hier?«
»Das … das habe ich dir alles schon erzählt!«, keuchte Jonathan. »Bist du völlig übergeschnappt?«
»Nein«, knurrte José. »Ich bin zur Vernunft gekommen.« Er ließ Jonathan los, stieß ihn auf den Boden und hielt ihn dort fest. »Jetzt erzähl mir die wahre Geschichte. Nichts von toten Müttern und kleinen Schwestern und Pistolen, die du zufällig unter Deck findest.«
Er sah, dass in Jonathans blauen Augen Tränen standen. »Heul ruhig«, sagte er.
»Ich … heul nicht«, sagte Jonathan und schluckte. »Ich habe seit Jahren nicht geheult. Nicht einmal … damals. Ich weiß nicht, wo dein Gewehr ist. Ich weiß auch nicht, wo die Pistole ist. Und ich habesie unter Deck gef… Vorsicht!«, schrie er.
José duckte sich instinktiv und der Großbaum fegte über ihn hinweg. Die Segel schlugen knatternd hin und her. Niemand hielt das Steuer fest. Die Mariposa stand einmal mehr im Wind.
José schluckte. Der Baum hätte ihn bewusstlos geschlagen, genau wie jemand es auf Santiago getan hatte.
»Danke«, murmelte er und ließ Jonathan los.
Er sah die Abdrücke seiner Finger dort, wo er Jonathans bloße Unterarme festgehalten hatte.
Jonathan rappelte sich auf und José brachte das Schiff schweigend wieder auf den richtigen Kurs.
»Was … was soll jetzt werden?«, fragte Jonathan schließlich leise.
»Ich weiß nicht«, sagte José. »Ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nur, dass ich dir nicht glaube. Aber ich werde zur Isla Maldita fahren, mit oder ohne Karte, und ich werde herausfinden, was dort vor sich geht. Und wenn ich eines Tages mit einer Kugel im Kopf aufwache, die du hineingejagt hast, dann habe ich es wenigstens versucht.«