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Sie nimmt Julia an der Hand. ›Halt deinen Bären gut fest‹, sagt sie, ›denn jetzt rennen wir.‹ Und dann höre ich die Flugzeuge, fast direkt über uns. Ich höre, dass ein Haus in der Nähe getroffen ist. Ich renne. So, wie sie es gesagt hat. Ich höre die Sirenen. Irgendwo prasseln Flammen. Da ist noch ein Geräusch, ein Motorengeräusch. Wie von einem Auto. Aber natürlich fährt keiner Auto bei einem Bombenangriff, nicht wahr? Ich drehe mich nicht um, ich renne. Mama und Julia sind irgendwo hinter mir. Ich stolpere Stufen hinunter … hämmere gegen die Tür des Kellers … jemand öffnet sie, zerrt mich hinein und wirft sie sofort wieder zu. Das Heulen der Sirenen wird leiser.« Er sah auf, sah José an, schwer atmend. »Und als ich mich umgedreht habe, waren Mama und Julia nicht da. Ich wollte die Tür noch einmal öffnen. Richard hat mich festgehalten. Er war schon achtzehn. Er war verantwortlich für den Luftschutzkeller.

»Er … er hat sie draußen an die Tür hämmern lassen und ihnen nicht geöffnet?«

Jonathan schien zu überlegen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich habe kein Klopfen gehört. Aber es war alles so laut … Kurz danach wurde der Häuserblock getroffen. Und am nächsten Tag fand ich den Bären und die Mütze vor dem Eingang zum Luftschutzkeller. Sie müssen die Sachen verloren haben. Ich denke, sie sind zurück ins Haus gerannt. Drinnen ist alles verbrannt, alles …« Jonathan sah zu Boden. »Nein«, murmelte er leise. »Es wird nicht besser, wenn man es erzählt.«

José legte einen Arm um ihn wie um einen kleinen Bruder und eine Weile saßen sie schweigend so. Seltsam, dachte José, aber etwas an Jonathans Geschichte stimmte nicht. Er konnte den Finger nicht darauflegen, aber etwas war falsch.Er fragte sich, ob Jonathan log oder ob er selbst gar nicht gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte. Er würde noch daraufkommen, dachte José, wenn er nur oft genug die gleiche Geschichte in seinem Kopf abspielte … Jonathans Vater … die Koffer … die Sirenen … die Nacht … der Teddybär …

Der Wind hatte nachgelassen, als dächte auch er über Jonathans Geschichte nach.

»Vielleicht haben sie nicht an die Tür des Kellers geklopft«, flüsterte Jonathan. »Vielleicht waren sie gar nicht hinter mir, Mama und Julia – das ist es, was mich am meisten erschreckt. Vielleicht ist Mama einfach auf der Straße geblieben. Mitten auf der Straße. Seit Papa tot war, war alles so anders. Als hätte das Leben keinen Wert mehr. Vielleicht hat sie Julia mitgenommen, in den Tod. Nur mich, mich hat sie hiergelassen.«

»Nein«, sagte José langsam. »Das … das glaube ich nicht. Sie hätte dich nicht dagelassen. Eine Mama lässt keine Kinder da. Mama Carmelita, meine Mutter – sie würde mich windelweich prügeln, wenn sie wüsste, dass ich allein aufs Meer hinausgesegelt bin.«

Er schob den Gedanken an seine Mutter beiseite. Er würde doch jetzt nicht anfangen, Heimweh zu bekommen wie ein dummes Kind. Er ließ seinen Blick über das Wasser gleiten.

»Jonathan«, sagte er und sprang auf. »Sieh nur! Dort! Sie kommen her.«

Jonathan hob den Kopf. »Wer?«, fragte er erschrocken.

José lächelte. »Die Delfine. Vielleicht sind sie gekommen, um dich aufzumuntern.«

Ja, dachte Jonathan, vielleicht waren die Delfine tatsächlich gekommen, um ihn jene Nacht in Hamburg vergessen zu lassen, das Feuer, den Krieg und den Tod. Sie waren das Gegenteil von alldem. Ihre glänzenden Rücken tauchten aus dem Wasser wie Lichtblitze, und jetzt waren sie ganz nah, schwammen um die Mariposa herum, tauchten unter ihr hindurch und kamen auf der anderen Seite wieder hervor – sie sprangen übermütig durch die Luft, sorglos, verspielt. Der Wind war eingeschlafen und die Mariposa hing still auf dem unendlichen Wasser. Die Delfine kamen so dicht an die honigfarbenen Holzwände heran, dass Jonathan ihre langen, schnabelartigen Schnauzen mit den winzigen Zähnen erkennen konnte. Er zählte sieben Tiere. Eines versuchte das Schiff mit seiner Nase anzustupsen, und ein paar andere gaben übermütige schnatternde Laute von sich.

»Hör dir das an«, sagte José. »Sie lachen. Sie lachen über uns. Weil wir nicht vorankommen.«

Er rollte die Fock wieder ganz aus und vergrößerte die Fläche des Großsegels, doch es half alles nichts: Die Mariposa stand.

Jonathan dachte daran, was Mama über die Delfine erzählt hatte.

»Denkt euch«, hatte sie gesagt, »angeblich erlauben sie es manchmal, dass man sich an ihrer Rückenflosse festhält, und ziehen einen mit sich.«

»Das will ich machen!«, hatte Julia gerufen. »Ich will mit einem Delfin im Wasser planschen! Er soll mich ziehen, ganz weit, mitten durchs Meer …«

»José«, sagte Jonathan, »wenn wir sowieso nicht vorankommen – hättest du etwas dagegen, wenn ich eine Runde schwimme?«

José zögerte. »Das letzte Mal, als du ins Wasser gesprungen bist, wolltest du sterben«, sagte er leise. »Du fängst nicht wieder damit an, oder? Sterben zu wollen?«

»Vorerst nicht«, antwortete Jonathan ernst.

»Gut«, meinte José. »Dann spring ruhig rein. Sie warten auf dich.«

Es sah tatsächlich aus, als warteten die Delfine. Sie reckten erwartungsvoll die Hundeschnauzen aus dem Wasser und schnatterten wieder. Jonathan legte die Schiebermütze neben Julias Teddybären auf die Bank und stellte einen Fuß auf die Reling. Seine Lippen formten lautlose Worte auf Deutsch: Jetzt werde ich das tun,sagte er, was du wolltest, Julia. Ich werde mit den Delfinen schwimmen. Ich denke ganz fest an dich, und es wird sein, als wärst du bei mir. Bist du bereit? Eins, zwei …

»Warte!«, rief José. »Zieh die Kleider aus! Wir brauchen nicht noch mehr nasse Sachen an Bord.«

»Ich schwimme lieber mit den Sachen«, sagte Jonathan sehr entschlossen und sprang ins Wasser. Er wusste, dass José jetzt auf dem Schiff saß und den Kopf über ihn schüttelte. Sollte er nur den Kopf schütteln! Die Delfine stoben auseinander, als er zwischen ihnen im Meer landete. Doch sie kehrten zurück, nahmen ihn in die Mitte und schwammen tatsächlich mit ihm. Wie schnell sie waren! Sie warteten auf ihn, umkreisten ihn, tauchten unter ihm durch … Jonathan wurde schwindelig von ihrem Tanz unter und über Wasser, und dann glitt einer der Delfine ganz nah heran und er bekam seine Rückenflosse zu fassen. Der Delfin zog ihn durchs Wasser, genau so, wie es in Mamas Büchern gestanden hatte. Jonathan schloss die Augen. Und auf einmal war es, als ließe er alles hinter sich: die brennende Hamburger Nacht, die Reise mit Waterweg, José und die Mariposa. Da waren nur er und der Delfin und das Meer.

»Jonathan!«, hörte er José brüllen. »Komm zurück, du Idiot!«

Jonathan öffnete die Augen. Die Mariposa war schon ein ganzes Stück weit weg. Einen Moment lang zögerte Jonathan. Dann ließ er die Rückenflosse des Delfins los.

»Ich komme«, flüsterte er. »José, ich komme. Noch ist es nicht Zeit, dich und die Mariposa zu verlassen.« Er wandte sich den Delfinen zu, die sich noch immer um ihn im Wasser tummelten. »Ich habe ihm versprochen, ihn bis zur Isla Maldita zu begleiten«, erklärte er ihnen. »Danach komme ich vielleicht mit euch. Erst danach.«

Damit drehte er sich um und begann zurückzuschwimmen. Die Delfine folgten ihm nicht. Als Jonathan sich einmal umdrehte, waren sie in einer langen Bahn aus waghalsigen Sprüngen auf dem Weg hinaus in den Ozean, fort von ihm. Hatten sie verstanden, was er zu ihnen gesagt hatte? Die Mariposa war nicht mehr als ein Fleck aus goldgelbem Licht. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder zu einem Schiff wurde, und noch eine Weile, bis Jonathans ausgestreckte Hand ihren Rumpf berührte. Ein wenig war es wie Nachhausekommen.

»Du hirnverbrannter Blödmann!«, rief José. »Was sollte das denn jetzt wieder? Wolltest du, dass sie dich mitnehmen bis an den Horizont?«

Jonathan hielt sich an der Aluminiumleiter am Heck fest und atmete ein paarmal tief durch.

»Wäre interessant gewesen«, sagte er. »Vielleicht wäre ich dem Schiff begegnet. Dem, von dem Julias Bär stammt.«

20
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