«Aber, Sir«, wagte Gossage einzuwenden,»so verlieren sie viel Zeit — und wir auch. «Er blickte sich hilfesuchend um.
Herrick rieb sich die Augen. Er hatte schon so lange nicht mehr gut geschlafen, daß er sich kaum noch an eine Nacht ohne Albträume erinnern konnte. Dulcie war tot, sie würde nie wieder in der Tür stehen und ihn begrüßen… Scharf befahl er:»Setzen Sie endlich das Signal!«Er trat ans Schanzkleid und spähte nach querab.»Der Schuß eben kam von dort, nicht von der Egret, meine Herren!»
Wieder dröhnte ein Knall durch den Dunst. Herrick wurde plötzlich ganz ruhig.»Haben Sie das gehört, Kapitän Gossage? Was sagen Sie jetzt?»
«Tut mir leid, Sir«, sagte dieser leise.
«Man hört nur, was man hören will, auch auf See«, antwortete Herrick.
Leutnant Bowater meldete:»Die Versorger formieren sich zur Kiellinie, Sir.»
Herrick lächelte düster.»Sie riechen die Gefahr! Wahrscheinlich hatte Sir Richard wieder einmal recht. Wir waren nur zu voreingenommen, um ihm richtig zuzuhören.»
Der Midshipman der Wache rief:»Die Egret hat bestätigt, Sir!»
«Sie soll mehr Segel setzen und den Platz vor dem Flaggschiff einnehmen.»
Eine Stunde schlich dahin, eine zweite. Was hatten diese Schüsse in der Mittagshitze bedeutet? fragte sich Herrick. Waren sich da vielleicht nur ein Kaperer und ein Schmuggler begegnet? Er sah nicht hoch, als der Ausguck Land in Lee meldete.
«Eine Stunde noch, schätze ich, dann sind wir im Skagerrak, Sir. «Gossage entspannte sich allmählich.
«An Deck! Segel an Steuerbord voraus!»
Männer rannten nach rechts, und ein Dutzend Teleskope versuchte, den Dunst über der spiegelnden See zu durchdringen. Alle atmeten auf, als der Ausguck meldete:»Brigg, Sir. Sie führt unsere Flagge!»
Herrick faßte sich in Geduld, während die Brigg zum Flaggschiff aufkreuzte. Endlich rief der Signalgast:»Es ist die Larne, Sir, unter Commander Tyacke!»
Herrick versuchte, sich trotz seiner Kopfschmerzen zu erinnern. Tyacke? Larne? Er kannte beide Namen, doch der Zusammenhang fiel ihm nicht ein.
«Lieber Gott, die ist aber zugerichtet!»
Im Glas sah Herrick die Brigg jetzt genauer. In ihrem Vortoppsegel gähnten Löcher, und auch ihr Bug war zersplittert.
«Sie läßt kein Boot zu Wasser. Sie will wohl längsseits kommen!»
Herrick bewegte sein Glas und sah den Kommandanten. Er trug die einzelne Epaulette eines Commanders und hatte sich in die Webleinen geschwungen, ein Sprachrohr in der Hand. Aber sein Gesicht! Selbst die Ferne konnte die Entstellung nicht verbergen. Und dann fiel es Herrick wieder ein: Tyacke war mit Bolitho am Kap gewesen. Der Brander, die entflohene französische Fregatte — plötzlich wußte er alles wieder.
«Benbow ahoi!«Herrick senkte das Glas. So war der Commander drüben nur eine gesichtslose Gestalt.»Die Franzosen sind durchgebrochen! Ich bin auf zwei Linienschiffe gestoßen und drei weitere!»
Herrick schnippte mit den Fingern, und der Erste Offizier reichte ihm ein Sprachrohr.»Hier Konteradmiral Herrick! Was für Schiffe genau?«Jedes laute Wort schmerzte in seinem Schädel.
Tyacke antwortete mit klarer Stimme, und Herrick glaubte dabei Gelächter zu hören.»Ich habe nicht gewartet, um das rauszufinden, Sir. Die hätten mich glatt versenkt. «Er drehte sich um und gab ein Kommando. Die Larne fiel daraufhin etwas ab.»Aber eins war ein Linienschiff zweiter Klasse mit vierundneunzig Kanonen. Kein Zweifel, Sir!»
Herrick trat zurück.»Sagen Sie ihm bitte, er soll dies so schnell er kann an Sir Richard Bolitho melden. Nein, besser gleich an Admiral Gambier.«Überrascht stellte er fest, daß ihn das alles nicht mehr berührte.
Gossage atmete heftig.»Die Brigg setzt wieder Segel. Soll ich dem Konvoi befehlen, sich aufzulösen, Sir?»
«Haben Sie Varian von der Zest vergessen? Der wartet auf ein Kriegsgericht. Man hat schon mal einen englischen Admiral verurteilt und erschossen, weil er einem Angriff ausgewichen ist. Da würde man auch bei uns nicht zögern!«Er sah Tyackes Brigg nach, die schon vor dem Konvoi kreuzte. Der Mann mit dem entstellten Gesicht würde morgen auf Gambier oder Bolitho stoßen, aber für sie war es dann wahrscheinlich zu spät.
Als er wieder sprach, klang es fest und entschieden:»Signal an den Konvoi: mehr Segel setzen, dabei Kurs und Abstand genau einhalten. Stellen Sie sicher, daß jeder Kommandant weiß, wie nahe der Feind ist.»
«Aye, aye, Sir. Und dann?»
Plötzlich fühlte Herrick sich furchtbar müde. Aber er wußte, so bald gab es keine Erholung für ihn.»Dann, Kapitän Gossage, lassen Sie unser Schiff klar zum Gefecht machen.»
Gossage eilte davon. Dabei fiel ihm plötzlich auf, daß er Herrick zum ersten Mal seit dem Tod seiner Frau lächeln gesehen hatte. Er hatte dabei ausgesehen, als habe er nichts mehr zu verlieren.
Kapitän Keen las auf dem Achterdeck seine Uhr ab, indem er sie ans Kompaßlicht hielt. Um ihn herum standen nur schattenhafte Gestalten. Drüben an Land brüllten die Kanonen, eine für ihn ungewohnte Erfahrung. Die Black Prince lag vor Bug- und Heckanker und hätte jeden Angreifer mit einer Breitseite bestreichen können.
Keen spürte gespannte Erwartung um sich herum. Jede Ankertrosse wurde von einem Boot voller Seesoldaten bewacht. Seesoldaten waren auch an der Reling rings um das Deck verteilt und die Drehbassen so tief wie nur möglich auf das schwarze Wasser des großen Hafens von Kopenhagen gerichtet.
Der erste Teil des Angriffs war gut gelaufen. Am zwölften August war die Flotte vor Helsingör erschienen und auf keinen Widerstand gestoßen, trotz der vielen dänischen Kriegsschiffe. Drei Tage später hatte das Heer seinen Marsch auf Kopenhagen begonnen. Je näher die Truppen kamen, desto heftiger wurde die Gegenwehr der Dänen. Und beim letzten Angriff wurde die britische Flotte bedroht durch flachgehende Schiffe, von denen jedes zwanzig Kanonen trug, und von einer Kanonenbootflottille. Erst nach heftigem Gefecht konnten sie abgewehrt werden.
Bolitho kam übers Deck auf Keen zu. Wahrscheinlich hat er wieder nicht geschlafen, dachte sein Freund.
«Bald ist es soweit, Val.»
«Aye, Sir. Die Artillerie ist in Stellung gebracht. Wie ich höre, sind siebzig Mörser und Kanonen auf Kopenhagen gerichtet.»
Bolitho sah sich in der Dunkelheit um. Die Black Prince war Gambiers Flotte nach Helsingör gefolgt und schnell in einen Schußwechsel mit der dänischen Kronenbatterie verwickelt worden. Zwei Gruppen englischer Linienschiffe ankerten zwischen den dänischen Verteidigern und ihrer Flotte. Aber die meisten dänischen Schiffe waren offenbar eingedockt und wurden repariert, wahrscheinlich als Täuschung für jeden, der es auf sie abgesehen hatte.
Auf dem Höhepunkt des Bombardements und zwischen den Attacken der Kavallerie und Infanterie hatte der britische Oberbefehlshaber Lord Cathcart die Zeit gefunden, die dänische Kronprinzessin und die Nichten des Königs unbehelligt durch die englischen Linien zu geleiten, um ihnen die Schrecken einer Belagerung zu ersparen.
Keens Augen zuckten, als auf dem Nachthimmel plötzlich Feuer ausbrach und die gezielte Bombardierung begann. Brandbomben wurden auf die Stadt geschleudert, und binnen einer Stunde standen bereits viele Gebäude in Flammen.
«Warum streichen die Dänen nicht die Flagge?«fragte Keen durch zusammengebissene Zähne.»Sie haben doch keine Chance.»
In seinen Augen spiegelten sich die züngelnden Flammen. Das Schiff unter ihnen ruckte bei jedem Abschuß an seinen Trossen.
Die Dänen, dachte Bolitho. Wir sprechen immer von den Dänen, nie vom Feind. Plötzlich sah er ein Boot unten auf dem Wasser näherkommen. Die Brände beleuchteten es gespenstisch. Weiße gekreuzte Brustriemen wurden sichtbar, und jemand rief den Seesoldaten auf englisch zu, ja nicht zu schießen. Dann erhob sich ein Offizier im Heck des Bootes, legte die Hände um den Mund und rief durch den Lärm der Explosionen:»Sir Richard Bolitho! Der Kommandierende Admiral läßt grüßen und bittet Sie zu sich an Bord!»