Zwischen den Decks hing der kräftige Duft nach Rum und Tabak und der fette Geruch des Mittagessens. Als sich die Wache um den Messetisch versammelte, saßen Simcox und Tyacke in der Kajüte. Dieser Raum war so niedrig, daß sich die beiden großen Männer darin nur gebückt bewegen konnten.
Der Midshipman saß ihnen beschämt und ängstlich am anderen Ende gegenüber. Er tat Simcox leid. Schon der Gedanke an Essen bei diesem Seegang mußte seinen Magen aus dem Gleichgewicht bringen.
Plötzlich sagte Tyacke:»Sollte ich doch mit dem Admiral zusammentreffen, werde ich ihn um Bier für uns bitten. Ich habe gesehen, daß einige Soldaten auf dem Flaggschiff Bier tranken — warum also nicht auch wir? Das Wasser bringt hier sicherlich mehr Leute um als die Holländer.»
Beide sahen überrascht auf, als Segrave sich meldete:»In London wurde viel über Vizeadmiral Bolitho geredet.»
«Und was bitte?«fragte Tyacke mit täuschend freundlicher Stimme.
Segrave vergaß seine Seekrankheit und gab bereitwillig Auskunft.»Meine Mutter meinte, er hat sich unmöglich benommen. Unmöglich! Wie konnte er nur seine Frau wegen dieser Kokotte verlassen? Ganz London empört sich darüber. «Weiter kam er nicht.
«Wenn Sie das vor der Mannschaft sagen, werde ich Sie unter Arrest stellen und in Eisen legen lassen, junger Mann«, drohte Tyacke. Aber Simcox war sicher, daß die Freiwache trotzdem jedes Wort gehört hatte. Warum erregte sich der Kommandant so?
Tyacke beugte sich vor.»Und wenn Sie hier solchen Schwachsinn noch einmal sagen, werde ich Sie zum Duell fordern, egal wie jung und nutzlos Sie sind.»
Segrave wurde blaß. Simcox legte Tyacke eine Hand auf den Arm.»Ruhe, Ruhe. Woher soll's der Junge wissen?»
Tyacke schüttelte seine Hand ab.»Verdammt noch mal, Ben, was wollen diese Leute eigentlich?«Er wies mit dem Zeigefinger auf Segrave.»Wieso dürfen sie Männer verurteilen, die jede Stunde, jeden Tag ihr Leben aufs Spiel setzen, damit andere in Ruhe und Frieden daheim ihren Tee trinken und ihre Kekse essen können? Ich kenne Bolitho nicht, aber so etwas lasse ich nicht über ihn sagen.»
In der Stille gurgelte die See ums Heck.»Tut mir leid, Sir«, wisperte Segrave schließlich.
Tyacke lächelte unerwartet.»Ich hätte Sie nicht anbrüllen sollen, das war nicht fair. Sie können sich nicht wehren. «Er wischte sich die Stirn mit einem zerknüllten Taschentuch.»Aber jedes Wort zählt, also seien Sie auf der Hut.»
In dem frischen Nordwest war von draußen plötzlich der Ruf des Ausgucks zu hören:»Segel an Steuerbord voraus!»
Simcox klemmte seine Tasse in einem sicheren Winkel fest.
Der Ruf war gerade zur rechten Zeit gekommen.
«Kurs Südwest zu Süd liegt an, Sir. Voll und bei.»
Das Deck der Miranda neigte sich noch stärker, als der Schoner unter dem Druck von Groß- und Vorsegeln dem Ruder gehorchte. Wasser rauschte um die halbnackten Seeleute, die die gequollenen Leinen dichtholten und mit gekrümmten Zehen Halt an Deck suchten. Leutnant Tyacke zog sich zur Luvreling hoch. Am Bug sprang die Gischt empor und ließ den Klüver im Sonnenlicht metallisch glänzen.
Simcox nickte zustimmend, als der rundliche Bootsmann George Sperry noch zwei Mann ans Ruder stellte. Die Miranda wurde über eine geschnitzte Pinne gesteuert, was in dem harten Wind viel Kraft verlangte. Er sah Midshipman Segrave im Schatten des Großmasts stehen, der unter dem Segeldruck ächzte. Der Junge versuchte müde, den Männern auszuweichen, die an ihm vorbeihasteten, um die Brassen dichtzusetzen.»Wahrschau!«rief er ihm zu. Eine See stieg über die Leereling ein, begrub den Jungen unter sich und rauschte weiter. Segrave kam schnaufend und pitschnaß wieder frei.
«Her zu mir!«rief Simcox.»Achten Sie auf Segel, Wind und Kompaß, damit Sie endlich ein Gefühl für die Miranda kriegen.»
Hoch oben knallte etwas wie eine Peitsche: Eine Leine war gebrochen und wehte aus. Schon enterte ein Matrose auf, ein zweiter warf ihm eine Leine zum Anstecken nach, denn zum Spleißen blieb keine Zeit.
Segrave klammerte sich an die Beting unter dem Besanbaum und starrte nach oben. Die Männer, die da arbeiteten, scherten sich einen Teufel um den Wind, der sie aus der Takelage reißen wollte. Noch nie hatte er sich so elend, so verzweifelt und so mutlos gefühlt. Noch immer schmerzte ihn Tyackes Anpfiff wegen Bolitho. So wütend hatte er den Kommandanten noch nie erlebt.
Segrave wollte Tyacke ausweichen, doch das war auf einem so kleinen Schiff unmöglich. Es gab niemanden, mit dem er reden konnte, der ihn verstand. Auf seinem letzten Schiff hatte er gleichaltrige Kameraden gehabt, aber was blieb ihm hier? Sein Vater war ein Held gewesen, an den sich Roger Segrave allerdings kaum erinnern konnte. Bei seinen seltenen Besuchen daheim war er ihm fremd geblieben, ein unzufriedener Mann. Lag es daran, daß er drei Töchter, aber nur einen Sohn hatte? Eines Tages traf die Nachricht ein, daß Kapitän Segrave in der Schlacht von Camperdown gefallen war. Mit trauriger, doch gefaßter Stimme hatte die Mutter den Kindern den Tod des Vaters mitgeteilt. Da hatte schon ein Onkel, pensionierter Admiral in Plymouth, Roger unter seine Fittiche genommen — zum bleibenden Ruhm der Familie. Als der Onkel ein passendes Schiff gefunden hatte, wurde der Junge mit einer Seekiste an Bord geschickt. So begannen für ihn drei höllische Jahre auf See. Segrave haßte die Marine, ihm war die Familientradition herzlich gleichgültig. Ehe er Portsmouth verließ, hatte er seiner Mutter sein Herz ausgeschüttet, aber sie hatte ihn umarmt und dann von sich geschoben. Ihre Stimme klang verletzt:»Und das, nachdem der Admiral soviel für dich und unsere Familie getan hat! Sei tapfer, Roger. Wir wollen stolz auf dich sein!»
Segrave versteifte sich jetzt, als der Kommandant sich zu ihm umdrehte. Wenn er nur nicht dieses furchtbar entstellte Gesicht gehabt hätte! Segrave ahnte trotz seiner Jugend, wie sehr Tyacke darunter litt. Und obwohl er es gar nicht wollte, starrte er ihm immer wieder ins Gesicht.
Wenn er seine Prüfung bestand, würde er zum Leutnant befördert werden. Er duckte sich, als Gischt auf ihn niederprasselte. Dann mußte er die Messe mit anderen Offizieren teilen, und die würden schnell erkennen, was für ein Schwächling er war; eine Gefahr für alle, wenn es zum Kampf kam. Er ballte die Hände, bis es schmerzte, und schluckte vor Furcht.
Simcox köpfte ihm auf die Schulter.»Fallen Sie einen Strich ab. Neuer Kurs Südsüdwest. «Segrave gab den Befehl an den ältesten Rudergänger weiter, doch der übersah den Midshipman und suchte Simcox' Blick zur Bestätigung.
«An Deck! Der Fremde läuft davon und setzt mehr Segel.»
Tyacke schob die Daumen hinter seinen Gürtel.»Er versucht's also. «Durch die hohlen Hände rief er:»Mr. Jay, nehmen Sie ein Glas mit nach oben!«Der Mastergehilfe eilte zu den Webleinen, und da kam schon der nächste Befehl:
«Marssegel setzen!«Tyacke lächelte, was er selten tat.»Er wird uns nicht entkommen.»
Dann schien er Segrave zum erstenmal zu bemerken.»Entern Sie mit auf und lernen Sie was!«Damit ließ er den Midshipman stehen.
Segrave hatte endlich das Ende der schwankenden Webleinen erreicht und hielt sich neben Mr. Jay auf der Saling fest. Die Höhe machte ihm nichts aus, er starrte über die endlose See mit ihren weißschäumenden Wellen. Hier oben konnte man das Schiff vergessen. Er sah, wie die Gischt am Bug hochstieg und über das Deck geweht wurde, fühlte das Zittern des Mastes und merkte, wie die Segel den Wind einfingen, dessen Heulen alles an Deck übertönte.
Jay gab ihm das Teleskop.»Schauen Sie sich den mal an. «Dann brüllte er nach unten:»Ein Schoner, Sir! Ohne Flagge.»
Tyackes Stimme drang mühelos bis zu ihnen herauf:»Flieht er?»
«Aye, aye, Sir.»
Sie hörten das Quietschen eines Blocks, und Sekunden später entfaltete sich die Kriegsflagge unter der Gaffel der Miranda. Jay grinste:»Denen werden wir's zeigen!»