Er bewegte das Glas weiter, bis er die Siedlung fand. Der Rauch kam von den außen liegenden Bauten, wahrscheinlich jenen, die sie für die Sträflinge errichtet hatten. Auch in den Palisaden entdeckte er mehrere Lücken, das Werk schwerer Geschütze.
Aber die Flagge wehte noch. Er schob das Teleskop zusammen, wütend darüber, daß er sich gefügt hatte. Nie wieder.
«Rufen Sie die Besatzung auf Gefechtstation, Mr. Herrick. Wir werden zwei Kabellängen vor der Pier ankern. Ich muß in aller Eile auslaufen können.»
Er verschloß seine Ohren vor den lärmenden Befehlen, dem sofort einsetzenden Klatschen von Füßen auf den Gangways und den Decks. Auf der Back stand Borlase mit den Ankergasten bereit und spähte über den Bug. Überrascht drehte er sich bei dem plötzlichen Alarm um, und Bolitho fragte sich flüchtig, ob der Leutnant wohl glaube, sein Kapitän wäre verrückt geworden oder hätte in dem offenen Boot so sehr gelitten, daß er keine vernünftige Entscheidung mehr treffen konnte.
Herrick kam eilig über das Achterdeck und berührte seinen Hut.»Mannschaft auf Gefechtstation, Sir. «Er fragte:»Sollen wir Klarschiff befehlen?«»Noch nicht.»
Bolitho hob das Glas wieder und entdeckte mehrere halbnackte Gestalten, die sich zwischen den Büschen auf dem nächstliegenden Strand duckten. Tinahs Dorf war also nicht völlig vernichtet worden, registrierte er voller Dankbarkeit.
Er senkte das Glas und sah Keen auf dem Batteriedeck, der seine Augen beschattete und zum Strand hinüberblickte. Er dachte wohl an seine schöne Malua. Erinnerte sich an seinen Traum.
Lakey räusperte sich geräuschvoll.»Wir sind aus dem Wind,
Sir.»
Bolitho wandte sich um und sah, daß sie in den Schutz des Landes glitten, und hörte die Bramsegel über sich unruhig killen.
«Sehr gut. Dann wollen wir jetzt ankern.»
Ein weiter Weg für die Männer in den Booten. Andererseits sicherte es den Geschützen der Tempest die Herrschaft über die gesamte Bucht.
«An die Leebrassen! Hol rund!»
Bolitho trat ein paar Schritte zurück, um seine Leute zu beobachten. Jetzt waren es sogar noch weniger, da der größte Teil der Besatzung gefechtsbereit bei den Geschützen stand, für den Fall, daß sie gebraucht werden sollten. In zwei Jahren hatten sie vieles gelernt. Die Zeit auf der Fregatte mochte schwer für sie gewesen sein, aber sie war gut für sie gewesen.
Matrosen arbeiteten fieberhaft mit Leinwand und Geitauen, während andere an den Brassen zogen, um die Rahen beizuholen.
«Ruder hart Backbord!»
Bolitho überquerte das Deck, damit er das Ufer und den Pier unter der Siedlung ständig beobachten konnte.»Laß fallen Anker!»
Kaum hörte er den Anker fallen, als er sagte:»Ich brauche meine Gig. Ferner die Barkasse und ein vollständiges Landkommando Marinesoldaten. Hauptmann Prideaux soll persönlich die Führung übernehmen. «Er winkte Allday.»Sorgen Sie dafür, daß die Besatzung der Gig ordnungsgemäß gekleidet ist. «Er bemerkte die Überraschung, oder war es Gekränktsein, auf Alldays Gesicht.»Ich weiß. Sie haben es schon befohlen, aber es muß alles richtig aussehen.»
Er sah die Marinesoldaten von ihren Stationen auf dem Achterdeck und in den Masten zusammenströmen. Sergeant Quare rief Befehle, sein von der Fahrt im offenen Boot sonnenverbranntes Gesicht war fast so rot wie sein Rock. Herrick beobachtete, wie die Boote über den Netzen ausgeschwenkt wurden. Jury, der Bootsmann, trieb die Leute mit der Lautstärke eines wütenden Bullen an.»Sieht ganz so aus, als ob die Siedlung angegriffen worden wäre, Sir.»
«Ja. «Bolitho hob die Arme, als Allday ihm den Degen umgürtete.»Es beweist, daß wir recht hatten. Tuke will die
Siedlung für sich. Er muß die eroberten Geschütze eingesetzt haben, um Raymond zu warnen.»
Herrick leckte sich die Lippen.»Anscheinend ist er uns jedesmal einen Schritt voraus, Sir.»
Bolitho ging zur Gangway und sah zu den Booten hinunter.
«Bis auf eines. Er eroberte Hardacres Schoner und ist über
Ihre Meldung genau unterrichtet.»
«Das bedaure ich sehr, Sir. Ich dachte…»
Bolitho ergriff seinen Arm.»Nein, Thomas. Das ist unser einziges Plus. Tuke wird glauben, daß Sie noch vor Rutara liegen, daß Sie nicht wagen, gegen Ihren Befehl zu handeln und daß Sie befürchten, das Fieber hätte auch auf die
Siedlung übergegriffen. Darüber hinaus weiß er auch, daß
ohne den Schoner keine Möglichkeit besteht, zwischen dem
Schiff und der Siedlung Nachrichten auszutauschen.»
Herrick verstand.»An seiner Stelle hätte ich die gleichen
Überlegungen angestellt. «Dann schüttelte er den Kopf.»In einem offenen Boot, für nur wenige Tage Wasser und Verpflegung und dann auch noch zwischen feindlichen Inseln hindurch — ja, ich kann seine Überlegungen verstehen.»
«Das ändert alles nichts. «Bolitho beobachtete, wie die mit Marinesoldaten dicht besetzte Barkasse vom Schiff ablegte und darauf wartete, daß die Gig längsseit kam.»Es gibt uns allerdings Zeit. Andernfalls, fürchte ich, wäre die Insel bereits gefallen. «Borlase rief:»Alles klar, Sir.»
«Welche Instruktionen haben Sie für mich, Sir?«Herrick begleitete Bolitho zur Einstiegspforte.»Die üblichen. Einen guten Ausguck und etwa sechs Kanonen ständig bemannt. Wenn an Land alles sicher ist, wünsche ich, daß auf dem Berg ein Ausguck postiert wird. «Er stieg in das Boot hinab, während noch das schrille Pfeifen des Bootsmannsmaaten in der feuchten Luft hing. Borlase fragte gereizt:»Warum diese ganze Demonstration von Stärke? Die Seesoldaten, die Gig mit den Ruderern in ihren besten Hemden? Das ist doch eher wie ein Höflichkeitsbesuch als wie die Vorbereitung einer Evakuierung.»
Herrick musterte ihn kalt.»Evakuierung? Niemals. Auf diese Weise zeigt der Kommandant, daß — gleichgültig, was andere denken oder fürchten mögen — die Tempest dasselbe ist wie früher: ein Kriegsschiff, Mr. Borlase, kein alter Kahn voll ängstlicher alter Weiber.»
Keen kam zu ihnen und fragte:»Wer ist mit dem Kapitän gefahren?»
Herrick antwortete knapp:»Mr. Swift. Eine günstige Gelegenheit für ihn, etwas zu lernen, wenn er sich in dem Dienstrang bewähren soll, den er vorübergehend innehat. «Er wandte sich ab und dachte an die Worte, die Bolitho in seiner Kajüte vor der Morgendämmerung gesprochen hatte.»Nicht Mr. Keen, Thomas. Es ist noch zu früh. Bei jedem Baum wird er seine Malua sehen und ihre Stimme hören. Nein, er braucht Zeit. Ich nehme den jungen Swift. «Herrick seufzte. Typisch, dachte er. Er beobachtete, wie die
Boote in Kiellinie gingen und sich der Pier zuwendeten. Aber um wie vieles schlimmer mußte es für ihn sein.
Bolitho stand neben einem der hohen Fenster in Raymonds Arbeitsraum und lauschte auf das irre Kreischen der Vögel im dichten Unterholz.
Seine Ruhe überraschte ihn selbst, sein Unvermögen, weder Abscheu noch Haß zu empfinden, als er Raymond an seinem geschnitzten Tisch sitzen sah.
Unter dem Fenster hörte er einige Marinesoldaten durch den weiten Hof stampfen. Ihre Stimmen und ihre Stiefel waren unnatürlich laut. Während seiner Abwesenheit, in den Tagen, an denen er und seine Bootsbesatzung sich qualvoll vorwärts gekämpft hatten, war die Siedlung erschreckend verfallen.
Vorräte waren vergeudet worden, überall lagen leere Flaschen und Fässer herum. Sogar Raymond hatte sich verändert, war hohläugig und ungepflegt, und sein besudeltes Hemd machte seinen Anblick nur noch schlimmer. Von allen hatte er sich am meisten verändert. Bolitho hatte fast damit gerechnet, daß ihm die Tore verschlossen bleiben würden. Wäre das der Fall gewesen, dann hätte er weder seine eigenen Gefühle noch die seiner Leute beherrschen können, das wußte er. Raymond hatte so wie jetzt an seinem Tisch gesessen und auf die Tür gestarrt. Vielleicht hatte er sich, seit die beiden Boote im Schutz der Dunkelheit aufgebrochen waren, nicht von seinem Platz gerührt.
Er hatte gesagt:»Sie haben also überlebt? Und was werden Sie jetzt tun?»