Der Steuermann sah ihn forschend an.»Es wird auch Zeit«, antwortete er trocken.
Halb kauernd, halb stehend, hielt Blissett im Bug des Bootes Wache. Mit beiden Händen umklammerte er den Vordersteven, um sich im Gleichgewicht zu halten. Er war verzweifelt müde, vor Hunger schmerzte ihn der Magen so sehr, daß er sich gleichzeitig übel und benommen fühlte. Hinter seinem Rücken hoben und senkten sich die Riemen sehr langsam, und ihr Schlag war unregelmäßig und unsicher.
Vor Kälte knirschte er mit den Zähnen. In einer Stunde etwa würde die Sonne wieder aufgehen, und dann… Er bemühte sich, nicht daran zu denken, sich auf etwas zu konzentrieren, das seinen Kopf davon abhielt, hin und her zu schwanken. Gelegentlich hörte er die Pinne knarren und stellte sich Leutnant Keen vor, der dort saß und sich nach den Sternen richtete, um das Boot einigermaßen auf Kurs zu halten. Bei dem schweren Sturm hatten sie die Laterne für den Kompaß verloren, und es verlangte großes Können, das Boot vor dem Abtreiben zu bewahren, da die Ruderer zu erschöpft waren, um es zu bemerken.
Deshalb war Blissett im Bug eingesetzt. Abgesehen davon, daß er einer der kräftigsten Männer im Boot war, hatte sein früheres Leben als Wildhüter seine Sehkraft ganz besonders geschärft. Er hatte keine Ahnung, ob die Insel, die sie vor Einbruch der Nacht gesichtet hatten, die von ihnen gesuchte war, aber das interessierte ihn auch nicht sonderlich. Doch bei dem hohen Grad ihrer Erschöpfung war es mehr als nur möglich, daß sie in der Dunkelheit an ihr vorbeifuhren. Er gähnte und versuchte, die Kälteschauer zu unterdrücken. Er ahnte, daß Penneck ihn vom Boden des Bootes aus beobachtete. Mit wilden Wahnsinnsaugen. Wenn du wieder anfängst zu toben, ramme ich dir meine Muskete ins Maul, dachte er. Als sich etwas Weißes durch die Dunkelheit bewegte, erstarrte er. Aber es war kein Vogel. Nur ein
Schaumspritzer von einem brechenden Wellenkamm. Die See schien schon heller zu werden, stellte er mit Unbehagen fest. Bald kam die Sonne. Die Qual. Jemand kletterte über die Ducht hinter ihm und fragte heiser:»Nichts?«Es war der Sergeant, der sich bereitmachte, seine Tour an einem Riemen zu übernehmen. Blissett schüttelte den Kopf.»Es fängt an zu dämmern.«»Ja. «Quare wirkte sehr bedrückt.
«Macht nichts, Sergeant. «Plötzlich war es für Blissett lebenswichtig, daß Quare so war wie immer: zuversichtlich, hart.»Wir werden es schaffen.»
Quare lächelte müde, verzog schmerzlich das Gesicht, weil ihm die aufgesprungenen Lippen weh taten.»Wenn du meinst?»
Blissett wandte sich von ihm ab. Wenn Quare wirklich glaubte… Er erstarrte, blinzelte heftig, weil etwas das gleichmäßige Gefüge der Wogen zu unterbrechen schien. Mit unsicherer Stimme sagte er:»Sergeant! Da vor uns ist Land. «Er packte Quares Arm.»Mein Gott, sagen Sie, daß ich recht habe.»
Quare schluckte hart und nickte.»Ja, Junge, du hast recht. Ich sehe es auch. «Heftig drehte er sich nach achtern um.»Land voraus!»
Die Riemen gerieten augenblicklich außer Kontrolle, als die Ruderer aufsprangen.
Bolitho konnte sich nicht bewegen, da er, einen Arm um Violas Schultern gelegt, eingeschlafen war.»Mr. Keen! Was sehen Sie?«fragte er hastig. Aber die Antwort kam von Allday.»Das ist sie, Captain. Ich bin sicher. «Er sah sich im Boot um.»Da sind so viele verdammte Inseln, aber wir haben die richtige gefunden. «Ein paar wollten jubeln, andere weinen, aber selbst dazu waren sie zu ausgedörrt.
Ruhig sagte Bolitho:»Viola, wach auf. Du hast recht gehabt. Das muß Rutara sein, obwohl es fast schon ein Wunder ist. «Allday hörte ihn, seufzte auf und rieb sich die schmerzenden Hände an seiner Hose. Er wollte in diesem Augenblick etwas Besonderes sagen. Etwas, das sie zusammenhielt, lange nachdem das Boot, die Qualen dieser Fahrt in ihrer
Erinnerung verblaßt waren.
Er sah Bolitho an und dann Viola Raymond. Bolitho hielt sie an sich gedrückt, wie er es den größten Teil der Nacht über getan hatte. Doch als er sie jetzt zu wecken versuchte, entglitt ihr Arm seinem Griff, hing an ihrer Seite herab und schwankte mit dem Stampfen des Bootes. Allday fuhr auf. Mit heiserer Stimme rief er:»Mr. Keen! Kümmern Sie sich um den Captain!«Er drängte sich nach hinten, stieß die Männer achtlos beiseite und fügte eindringlich hinzu:»Tun Sie, was ich sage, Sir. «Dann war er bei der Pinne, umfing sie beide mit den Armen und rief:»Fassung, Captain. Es ist sinnlos. Überlassen Sie sie mir, bitte!«Und als Bolitho anfing, sich zu wehren, rief er:»Haltet ihn!«Er drehte den Kopf, flehte mit brechender Stimme:»Um Gottes willen, Mr. Keen!«Erst jetzt hatte Keen begriffen. Er packte Bolitho um die Schultern, und Jenner umfaßte den Kapitän von der anderen Seite. Der Amerikaner entschuldigte sich stammelnd:»Ich muß das tun, Sir. Ich darf Sie nicht loslassen. «Allday hob Viola auf, nahm sie in die Arme, trug sie zur Mitte des Bootes und spürte, wie der Wind ihm ihr Haar ins Gesicht wehte. Ihr Körper war noch warm, aber ihr Gesicht lag eiskalt an seinem Hals.
Mit unterdrückter Stimme sagte er zu Miller:»Der Anker, Jack.»
Miller nickte. Wie alle anderen war er fast betäubt von dem, was geschehen war. Ihre überstandenen Leiden, der Anblick der Insel, es bedeutete alles nichts.
Bolitho schrie auf:»Nein!«Allday hörte seine Schuhe auf den nassen Bodenplanken scharren, während Keen und Jenner ihn zurückhielten.
Behutsam streifte Allday Bolithos Uniformrock von Violas Körper und hob sie über die Bordwand, während Miller eine Leine um ihren Körper schlang und den Anker des Kutters daran befestigte. Kein Hai oder Aasfresser sollte ihr nahe kommen.
Sie war so leicht, daß sich die Oberfläche kaum bewegte, als er sie ins Wasser gleiten ließ. Er blickte der hellen Gestalt nach, die langsam in der Tiefe verschwand, bis nichts mehr von ihr zu erkennen war.
Dann ging Allday nach achtern und blieb vor Bolitho stehen. Sein kräftiger Körper hob sich vor dem bleicher werdenden Himmel ab. Elend sagte er:»Machen Sie jetzt mit mir, was Sie wollen, Captain, aber es war das Beste so. «Er legte den Uniformrock neben Bolitho.»Sie hat ihre Ruhe gefunden. «Bolitho beugte sich vor und packte seine Hand.»Ich weiß. «Seine Stimme war kaum vernehmbar.»Ich weiß. «Keen befahl schwerfällig:»An die Riemen!«Das Boot setzte sich wieder in Bewegung. Langsam breitete sich das Tageslicht über dem Wasser aus. Bolitho blickte zurück. Fast unhörbar sagte er:»Es ist meine Schuld. Ohne mich wäre sie nie hierher gekommen. «Ruhig hielt ihm Keen entgegen:»Doch ohne sie hätte keiner von uns überlebt, Sir.»
Eine halbe Stunde später war die Insel im wachsenden Licht klar sichtbar, und dicht unter Land hob sich mit ausgespannten Sonnensegeln deutlich die Tempest ab. Doch diesmal gab es keinen Jubel, und während sie näherkamen, die plötzliche Aufregung an Bord der Fregatte wahrnahmen, die schrillen Pfeifen und lauten Befehle hörten und beobachteten, wie ein Boot zu Wasser gelassen wurde, war ihnen der grausame Verlust stärker bewußt als ihre Rettung.
Das Boot der Tempest erreichte sie in wenigen Minuten, nahm sie in Schlepp. Die bedrückte Stille hatte sich unvermittelt auch auf dessen Besatzung übertragen. Als Bolitho an der Bordwand hinaufkletterte und durch die Pforte trat, nahm er die sich herandrängenden Männer nur verschwommen wahr.
Nur ein Gesicht hob sich ab, und er packte Herricks Hand, war aber unfähig zu sprechen und die Hand wieder loszulassen.
Herrick sah ihn besorgt an.»Sie haben diesen weiten Weg zurückgelegt, Sir? Was…»
Er drehte sich um, als Keen hinter ihm sagte:»Die Lady ist heute nacht gestorben, Sir. In Sichtweite dieser verfluchten Insel. «Dann eilte er davon.
Herrick sagte:»Kommen Sie, Sir. Wir sprechen später darüber.»
Er winkte dem Bootsmann, aber den erschöpften und bedrückten Männern wurde bereits an Bord geholfen. Bolitho nickte jedem einzelnen zu, als sie an ihm vorbeikamen. Der diensttuende Leutnant Pyper wurde von zwei Matrosen getragen, Billyboy humpelte, einen Arm um den Nacken eines anderen gelegt. Jenner und Miller, Sergeant Quare und der unerschütterliche Blissett. Der Franzose Lenoir und Big Tom Frazer.