Литмир - Электронная Библиотека

Er kam an einem Wachtposten Prideauxs vorbei. Die gekreuzten Brustriemen des Marinesoldaten schimmerten hell in der Dunkelheit. Dann durch das breite Tor und an dem Galgen vorüber, wo der Aufseher Kimura auf ihn wartete.

«Nun?«Er konnte den Mann riechen: Schweiß und das farblose Getränk, das wie Rum schmeckte und einen umbrachte, wenn man zuviel davon trank.

Kimura sagte mit seiner fremdartigen Stimme:»Sie warten oben, Sir. Mir haben sie nichts gesagt.»

Nach der Fahrt in der Gig und dem Weg von der Pier herauf schien Raymonds Raum in blendendes Licht getaucht zu sein.

Raymond stand in einem knöchellangen Hausmantel aus rotem Satin mit zerwühltem Haar neben dem Schreibtisch und blickte ungehalten auf die offene Tür. Hardacre saß in einem Sessel, sein Gesicht war sehr grimmig, die Finger hatte er vor dem Bauch ineinander verschlungen. Und neben einem der verhängten Fenster bildete der Kapitän der Pigeon dazu einen krassen Gegensatz, brachte die Weite des Ozeans in den Raum.

William Tremayne hatte sich kaum verändert, fand Bolitho, der auf ihn zuging und seine Hand ergriff. Breit und untersetzt, mit borstigem, grauem Haar und so dunklen Augen, daß sie im Lampenlicht wie nasse Kohlen schimmerten.

Tremayne grinste.»Dick Bolitho!«Er drückte ihm die Hand mit einer Handfläche, so rauh wie ungehobeltes Holz.»Wie geht's denn, mein Alter? Immer noch Kapitän?«Er lachte verhalten mit Lauten, die aus der Tiefe kamen und bei Bolitho sofort Erinnerungen auslösten.»Ich hatte damit gerechnet, daß du jetzt mindestens Chef der Marine des Königs bist.»

Raymond unterbrach schroff:»Ja, ja, schon gut. Setzen Sie sich bitte alle beide. Die herzliche Begrüßung kann warten. «Tremayne spähte mit unschuldigen dunklen Augen unter seinen Sessel.

«Was gibt es denn noch?«Raymond schien am Rand einer Explosion zu stehen.

Tremayne sah ihn bekümmert an.»Tut mir leid, Sir. Ich dachte, Sie sprechen mit einem Hund, und ich hab' nur nach ihm gesucht.»

Raymond räusperte sich heftig, und Bolitho sah, daß seine Hände stark zitterten.

Raymond sagte:»Die Lage ist ernst, Bolitho. «Tremayne fuhr unbekümmert dazwischen:»Ja, das ist sie, Dick. Ganz Europa ist in Aufruhr und droht zu explodieren.»

Bolitho beobachtete Raymonds Hände.»Spanien?«»Schlimmer. «Raymond schien Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden.»In Frankreich hat es eine blutige Revolution gegeben. Der Pöbel hat die Herrschaft an sich gerissen, den König und die Königin ins Gefängnis geworfen. Sie mögen vielleicht jetzt schon tot sein, während wir noch hier sitzen. Den Berichten zufolge wurden Tausende gejagt und öffentlich geköpft. Jeder von adliger

Abstammung oder mit der geringsten Autorität wurde ergriffen und abgeschlachtet. Unsere Kanalhäfen sind mit Flüchtlingen überfüllt.»

Bolitho spürte, daß ihm der Mund trocken wurde. Revolution in Frankreich? Das erschien ihm nicht möglich. Es war zu Aufruhr wegen der Lebensmittelversorgung und zu Unruhen gekommen, aber das hatte man nach dem Krieg auch in England erlebt. Er konnte sich gut vorstellen, wie diese Nachrichten zu Hause wirkten. Bei den Törichten und jenen, die nicht nachdachten, würde es kurze Zeit Begeisterung darüber geben, daß ein alter Feind zusammengebrochen war. Und dann würde kalte Logik und Verständnis einsetzen. Frankreich war nur durch den Kanal von England getrennt, und es wurde vom Terror beherrscht. Während er sich um die Aufgaben der Tempest gesorgt und die Nachricht von der Meuterei auf der Bounty von Timor nach Sydney gebracht hatte, war in der Welt, die zählte, eine Brandfackel entflammt worden.

Raymond sagte:»Das bedeutet Krieg. «Er starrte auf die Wand, als ob er erwarte, dort den Feind zu sehen.»Und der letzte wird im Vergleich dazu wie ein Scharmützel erscheinen.»

Tremayne betrachtete ihn neugierig und sagte dann zu Bolitho:»Es hat im vergangenen Juli angefangen. Inzwischen kann alles noch viel schlimmer geworden sein. Trotzdem wird es für diesen Franzosen Genin eine gute Nachricht sein, nehme ich an. «Bolitho sah Raymond an.»Genin?«»Ja, Yves Genin, einer der führenden Köpfe der Revolution. Gestern war auf ihn noch ein Preis ausgesetzt. Heute…«Bolitho starrte ihn an.»Ist das der Mann, den de Barras fangen will?«Er beobachtete, wie Schuldbewußtsein an die Stelle von Unsicherheit trat.»Sie haben es gewußt! Die ganze Zeit haben Sie gewußt, daß Genin kein Krimineller ist, sondern aus politischen Gründen gesucht wird!«»De Barras hat es mir anvertraut, gewiß. «Raymond versuchte, seine Haltung wiederzugewinnen.»Ich muß meine Untergebenen nicht in alles einweihen. Und überhaupt, was interessiert Sie das? Wenn es de Barras gelingt, Genin lebend zu fassen, ist das seine AAngelegenheit. Er wird eben den neuen Herren dienen, wenn er nach Frankreich zurückkommt.»

Tremayne sagte barsch:»Er wäre ein Narr, wenn er das täte. Sein Kopf landete in einem Korb, noch ehe er >Beil< sagen könnte. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was ich gehört habe, muß in Paris die Hölle los sein. «Zum ersten Mal nahm Hardacre das Wort. Er sprach sehr leise und beherrscht.»Sie haben nicht ein Wort begriffen, Mr. Raymond, wie?«Er stand auf, ging zum nächsten Fenster und zog den Vorhang beiseite.»Kapitän Bolitho hat es verstanden, selbst ich, ein Mann vom Lande, habe es verstanden, aber Sie?«Seine Stimme hob sich etwas.»Sie sind von Ihrer Gier und Ihrer eigenen Bedeutung so erfüllt, daß Sie nichts begreifen. In Frankreich hat eine Revolution stattgefunden. Sie kann sich sogar auf England ausdehnen, und Gott weiß, es gibt genug, die ohne sie nie Gerechtigkeit erfahren werden. Aber hier draußen, auf diesen Inseln, die Sie nur als Sprungbrett für Ihre verdammte Zukunft ansehen, was bedeutet sie hier wirklich?«Er schritt an den Tisch und hob aggressiv den Kopf.»Nun? Sagen Sie es doch, verdammt noch mal!»

Bolitho beschwichtigte:»Langsam, Mr. Hardacre. «Er wandte sich dem Tisch zu.»Wenn Sie mir gesagt hätten, daß Genin der Mann ist, der bei Tuke Zuflucht gefunden hat, hätte ich vielleicht einiges vorausgesehen. Jetzt kann es zu spät sein. Wenn Tuke von der Revolution erfährt, wird er in Genin nicht lediglich eine wertvolle Geisel sehen, sondern auch ein Mittel zum Zweck. Genin ist nicht länger ein gejagter Flüchtling, er vertritt sein Land, ebenso wie Sie oder ich das unsere vertreten.»

Raymond blickte zu ihm auf, seine Augen waren glasig.»Die Narval ? Geht es um sie?»

Angewidert wandte Bolitho sich ab.»Wenn die Besatzung der Narval von dem Umsturz in Frankreich erfährt, wird sie de Barras und seine Offiziere in Stücke reißen. «Tremayne sagte nüchtern:»Ich nehme an, er weiß Bescheid. Ich hörte, daß wenige Tage vor mir zwei französische Postschiffe Kap Horn gerundet haben. Wenn man mich fragt, ist die Nachricht schon über den ganzen Ozean verbreitet.»

Bolitho versuchte zu denken, ohne sich von seinen Gefühlen beeinflussen zu lassen. Die vielen Seegefechte, die Namen der Kapitäne, französische und englische in gleicher Weise, die zu Teilen der Geschichte geworden waren. Der Geschichte, die er mitgestaltet hatte. Wie auch Le Chaumareys.

Dieser weite Ozean wurde von Schiffen aller Art bevölkert, von stattlichen Indienfahrern bis zu Briggs und Schonern, bis zu winzigen Kanus in Fülle. Ja, die Nachricht würde sich sehr schnell verbreiten.

In den sieben Monaten seit dem Ausbruch der Revolution konnte sich schon die ganze Welt verändert haben. Nur eines war klar erkennbar wie ein Wrack auf einem Riff: Tuke würde die Narval nehmen. Es war so unausweichlich, daß er den Wunsch unterdrücken mußte, in die Dunkelheit hinaus zu rennen. Die Besatzung von de Barras würde sich der neuen Flagge bereitwillig unterwerfen. Nach der barbarischen Weise, wie sie unter de Barras hatte leben und dienen müssen, würde sie ihn wie eine Flutwelle hinwegschwemmen.

Und dann konnte Tuke in seiner neuen Rolle auftreten, nicht mehr als gefährlicher und lästiger Pirat, sondern als eine reale Kraft, mit der man rechnen mußte. In einem hatte Raymond recht: Es bedeutete Krieg. England konnte nicht tatenlos zusehen, daß sich ein neues Frankreich auf seine Kosten ausbreitete. Jedes Schiff würde dringend benötigt werden. Sie waren nicht einmal auf einen Zusammenstoß mit Spanien vorbereitet. Was sollten sie tun, wenn ihnen ein frisch belebtes Frankreich gegenübertrat? Tuke konnte mit seiner kleinen, aber durch nichts bedrohten Flottille tun, was ihm gefiel, nehmen, was er wollte. Ein Imperium gründen, wenn das sein Wunsch war. Bolitho sah Raymond wieder an. Dieser hatte die ganze Zeit über Genin Bescheid gewußt.

55
{"b":"113132","o":1}