Bolitho bemerkte, daß Barras auf seine Reaktion wartete. Er sagte:»Sie leben nicht schlecht, capitaine.«De Barras runzelte die Stirn. Vielleicht hatte es seinen Stolz verletzt, daß Bolitho ihn nicht mit seinem Adelsprädikat ansprach, sondern ihm eher wie einem Gleichrangigen gegenübertrat. Doch der Unmut wich schnell, und er setzte sich sehr behutsam in einen zweiten vergoldeten Sessel, ein Gegenstück zu dem, auf dem Bolitho saß.»Ich lebe so gut, wie es unter den frugalen Verhältnissen hier geht. «Er sprach perfekt englisch, nur mit leichtem Lispeln.»Aber nehmen Sie doch ein Glas Wein, äh, Captain. «Scharf beobachtete er den jungen Inder, ob er auch nur einen Tropfen auf den Teppich verschüttete. Das ließ Bolitho mehr Zeit, de Barras zu studieren, nachdem sich seine Augen an das Licht in der Kajüte gewöhnt hatten. Er mochte zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig sein. Mit der feingemeißelten Nase und dem schmalen Kinn sah er eher wie ein eleganter Höfling als wie ein Schiffsführer aus. Er trug eine Perücke, und auch das war ungewöhnlich und verstärkte den Eindruck des Unwirklichen.
Aber der Wein war gut. Mehr als das: ausgezeichnet. Das Kompliment schien de Barras zu behagen.»Mein Vater besitzt viele Weingärten. Dieser Jahrgang verträgt die Reise recht gut. «Wieder das kurze, gereizte Stirnrunzeln — wie Borlase, dachte Bolitho.»Und das muß er auch. Dieses Schiff ist jetzt seit drei Jahren ununterbrochen im Dienst, und seit zwei Jahren bin ich sein Kommandant.«»Verstehe. «Bolitho fragte sich, was dieser Mann in Wirklichkeit von ihm wollte. Er bemerkte, wie sich der junge Diener an de Barras' Seite bereithielt. Er war nicht nur aufmerksam, er war verängstigt.
De Barras fragte beiläufig:»Und was ist Ihr Bestimmungsort?»
Mit Geheimnistuerei war nichts zu gewinnen.»Die Levu-Inseln.»
«Rechnen Sie, äh, mit Schwierigkeiten?«Beiläufig deutete er mit spitzengesäumter Hand hinaus.»Weil Sie im Verband segeln?»
«Wir hatten Schwierigkeiten.»
Bolitho hätte gern gewußt, ob Raymond ein Fernglas auf die Narval gerichtet hielt. Hoffentlich. Hoffentlich kochte Raymond vor Zorn, weil er ausgeschlossen blieb.»Piraten?»
Bolitho lächelte leise.»Wie ich sehe, überrascht Sie das nicht.»
Darauf war der französische Kapitän nicht gefaßt gewesen.»Ich bin nur neugierig. «Er boxte den jungen Diener scharf gegen die Schulter.»Mehr Wein!»
«Und Sie sind auf dem Weg nach Neusüdwales?«fragte Bolitho.
«Ja. «De Barras stand auf, trat schnell ans Querschott und zog einen Vorhang zurecht.»Ungeschicktes Pack! Sie leben wie die Schweine und haben keinen Sinn für das Schöne. «Doch dann unterdrückte er seine plötzliche Gereiztheit und setzte sich wieder.»Ich möchte — Ihrem Gouverneur meine Aufwartung machen und dort Vorräte ergänzen. «Bolitho bewahrte ein Pokergesicht. Der Gouverneur würde bestimmt in die Luft gehen, wenn er eine französische Fregatte in seinem Hafen sah.
De Barras fuhr ruhig fort:»Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Piraten, schon seit Monaten. Er ist Engländer, aber nichtsdestoweniger ein Pirat. Wir haben beide die gleiche Aufgabe: ihn zu vernichten, wie, m'sieu?«Das schien ihn zu amüsieren.»Er machte die Karibische See von La Guaira bis Martinique unsicher. Ich verfolgte ihn nach Port of Spain und verlor ihn aus den Augen, nachdem er dort in der Nähe ein Dorf überfallen und gebrandschatzt hatte. «Seine Brust hob sich erregt.
Wie ein verzogenes Kind, dachte Bolitho. Äußerlich mochte er gebrechlich scheinen, aber unter der Haut war er gefährlich wie eine Schlange.
«Für einen einzelnen ist das schwierige Arbeit«, antwortete Bolitho. Er suchte nach einem Hinweis auf den Grund für de Barras' Vertraulichkeit.
«Er zieht eben andere an. «De Barras schlürfte genüßlich Wein.»Er selbst ist ohne jede Loyalität, kann sie aber in anderen wecken. Ich wollte das dem Gouverneur von Neusüdwales erklären, aber offenbar ister besser informiert, als mir bewußt war. «Er kam zu einem Entschluß.»Dieser Pirat heißt Tuke. Und er hat einen Mann bei sich, der von Martinique nach Frankreich deportiert werden sollte. Das war eine meiner Aufgaben. «Er spie die Worte förmlich aus.»Dieser cochon Tuke verhalf ihm zur Flucht, und jetzt dient er in dessen übler Mannschaft.«»Darf ich fragen, wer dieser Mann ist?«»Spielt keine Rolle. «De Barras hob die Schultern.»Ein Verräter Frankreichs, ein Agitator. Er muß dingfest gemacht und bestraft werden, ehe er weiteres Unheil anrichten kann. «Als Bolitho dazu schwieg, fügte de Barras heftig hinzu:
«Das liegt auch im Interesse Englands. Dieser Verräter wird mit Tukes Hilfe den Aufruhr schüren und immer mehr Schiffe und Inseln überfallen und ausrauben, je größer seine Macht wird. «Er tupfte sich ein Schweißtröpfchen vom Kinn.»Es ist einfach Ihre Pflicht!»
Ein Schatten fiel in die Kajüte, und als Bolitho sich nach den Fenstern umdrehte, glaubte er, eine Geistererscheinung aus einem Alptraum vor sich zu sehen. Draußen hing ein Mann, oder vielmehr das, was von ihm übrig war. Er baumelte an seinen Handgelenken, die Füße waren mit einem Strick gefesselt, der zum Ruder hinunterführte. Der Körper war übersät mit blutigen Rissen und tiefen, klaffenden Wunden. Ein Auge war aus der Höhle gerissen, das andere starrte blicklos in die Fenster, während der Mund wie ein schwarzes Loch gähnte.
De Barras war nahezu außer sich vor Wut. »Mon Dieu!«Er stieß den verstörten Diener auf die Tür zu und schickte ihm wütende Drohungen nach.
Von oben erklangen Stimmen, und der verstümmelte Körper verschwand schnell aus dem Blickfeld. Bolitho saß erstarrt in seinem Sessel. Er wußte, was da vorgegangen war: der barbarische alte Brauch des Kielholens. Einen Mann auf diese Weise zu bestrafen, hieß, ihn zu einem gräßlichen Tode verdammen. Das Opfer wurde am Bug zu Wasser gelassen und unter Wasser den Kiel entlanggezogen. Jetzt, nach dreijährigem Einsatz, mußten Kiel und Unterwasserschiff der Narval, ob kupferbeschlagen oder nicht, mit messerscharfen Muscheln bewachsen sein, die einen Menschen zerfleischen konnten, falls er nicht den Mut besaß, sich selbst zu ertränken.
Bolitho stand auf.»Ich verlasse Sie jetzt, m'sieu le Comte«, sagte er.»Wie Sie soeben ausführten, habe ich Pflichten zu erfüllen. Wenn Sie mich also entschuldigen wollen?«Angeekelt und empört, wandte er sich zur Tür. De Barras starrte ihn an.»Der Mann war ein Unruhestifter. Unverschämtheiten dulde ich nicht. Ein dreckiges, primitives Schwein!»
Bolitho trat ins Sonnenlicht hinaus. Er dachte an Le Chaumareys, dessen unerschütterlicher Mut die Besatzung inspiriert und zusammengehalten hatte. Im Vergleich zu ihm war de Barras ein Ungeheuer, ein bösartiger Tyrann, der das Kommando über die Narval vermutlich nur erhalten hatte, damit er Frankreich fernblieb.
An der Pforte sagte de Barras scharf:»Sparen Sie Ihren Zorn für den Feind auf!«Und sowie Bolitho den ersten Schritt von Bord machte, drehte er sich auf dem Absatz um und stelzte zur Kampanje zurück.
Derselbe Leutnant begleitete Bolitho zurück. Als sie beinahe längsseit der Tempest waren, fragte Bolitho ihn:»Wird Ihr Schiff so befehligt — durch Terror?«Der junge Offizier starrte ihn nur an, aber sein Gesicht war unter der Sonnenbräune blaß.
Bolitho erhob sich, es drängte ihn, auf sein Schiff zurückzukommen. Doch er fügte noch hinzu:»Denn wenn dem so ist, dann sehen Sie sich vor, daß der Terror nicht auch Sie verschlingt.»
Nur Minuten nach seiner Rückkehr erhielt Bolitho ein Signal von Raymond: die Aufforderung, ihn unverzüglich aufzusuchen.
Obwohl Bolitho noch aufgewühlt war von den Ereignissen an Bord der französischen Fregatte, erfüllte ihn das dennoch mit einer gewissen Befriedigung. Wie er vorausgesehen hatte, bestand Raymond darauf, daß er an Bord des Frachters kam, auch wenn er dabei Viola begegnen konnte. Raymond mußte demonstrieren, daß er und nicht Bolitho die Befehlsgewalt in Händen hielt, und seine Neugier tat ein übriges.