Sie legten eine Tagesrast ein, eine lange, denn alle waren von Kräften, Thomas aber schwankte schon im Laufen, so daß man ihn unwillkürlich stützen wollte. Sein Gesicht war gerötet, die Augen halb geschlossen, doch er setzte halsstarrig ein Bein vors andere, hin zum Gebirgspaß, zu seinem Paß, der für ihn mehr bedeutete als für die übrigen.
Etwa zwei Stunden nach der Rast wurde Thomas unruhig. „Wartet mal“, sagte er, „hoffentlich sind wir nicht vom Weg abgekommen. Hier müßten Überreste unsres Lagers sein, ich erinnere mich genau an diesen Felsen.“
Thomas setzte sich auf einen Stein, entfaltete mit zitternden Händen die Karte und fuhr mit dem Finger die Linien entlang. Dick konnte nichts damit anfangen, er ging voraus in der Hoffnung, ein Wild zu schießen. Oleg hockte sich neben Thomas auf den Boden.
Die Karte war mit Tinte in einer Zeit gefertigt worden, als es noch Tinte in der Siedlung gab — eine zähflüssige Paste, mit der die Federhalter gefüllt wurden. Oleg hatte diese Füller gesehen, nur schrieben sie damals schon nicht mehr.
Die Karte stammte aus einer Zeit, als die ersten Häuser im Dorf gebaut wurden und man noch der Meinung war, bei der erstmöglichen Gelegenheit zum Paß zurückzukehren. An dieser Karte hatten alle Anteil gehabt.
„Wir befinden uns jetzt hier“, sagte Thomas.
„Schon mehr als die Hälfte des Weges liegt hinter uns.
Ich hätte nicht gedacht, daß wir so schnell vorankommen.“
„Das Wetter ist gut“, sagte Oleg.
„Allem Anschein nach haben wir an dieser Stelle übernachtet. Es müßte Spuren geben, aber sie fehlen.“
„Es sind viele Jahre vergangen“, gab Oleg zu bedenken.
„Nun also … die Felsengruppen …“ murmelte Thomas.
„Drei Felsen, nein vier … Ach ja, beinahe hätte ich’s vergessen“, er drehte sich zu Oleg um. „Nimm das hier. Du mußt es unbedingt bei dir tragen. Ohne dieses Gerät darfst du keinen Schritt ins Raumschiff tun, das weißt du doch?“
„Ja. Es ist ein Strahlungsmesser, nicht wahr?“
„Genau. Du kennst den Grund, weshalb wir das Schiff schnell verlassen mußten. Wegen der starken Strahlung.
Und der Frost tat ein übriges.“
„Sollten Sie nicht ein bißchen schlafen?“ fragte Oleg.
„Es fällt Ihnen doch schwer. Wir brechen später auf.“
„Nein, wir dürfen uns nicht aufhalten, das würde den Tod bedeuten. Ich trage für euch die Verantwortung … Wo ist bloß das Lager … Wir hätten eigentlich tiefer graben müssen, als wir die Toten beerdigten, aber die Kraft reichte nicht. Und trotzdem, verstehst du, wir hätten sie tiefer vergraben müssen …“
Oleg konnte Thomas, der plötzlich vom Stein kippte, gerade noch auffangen.
Dick kam zurück, beobachtete vorwurfsvoll, wie Oleg den Kranken in Decken wickelte und Marjana hastig Feuer machte, um die Mixtur aufzuwärmen. Dick schwieg, doch Oleg hatte den Eindruck, als wiederhole er lautlos: ‚Ich hab euch gewarnt.‘ Oleg schraubte die Kappe der Feldflasche ab, roch am Kognak — es war ein herber, nahezu angenehmer Duft, trotzdem empfand er kein Verlangen, davon zu kosten. Das war wohl mehr eine Medizin, als zum Trinken gedacht. Er führte die Flasche vorsichtig an Thomas’ zusammengepreßte Lippen, der Kranke flüsterte etwas, das Oleg nicht verstand, schluckte dann aber und sagte aus unerfindlichem Grund „Skål“.
Sie konnten den Weg erst in der Dämmerung fortsetzen.
Thomas war wieder zu sich gekommen, sie wickelten ihn in Decken, seinen Sack übernahm Oleg, die Armbrust Dick. Wegen dieser Unterbrechung liefen sie, oder genauer kraxelten sie nicht länger als zwei Stunden am Hang entlang, der von riesigen, rutschenden Steinen bedeckt war.
Dann wurde die Sicht schlechter, und sie mußten sich ein Nachtquartier suchen.
Es wurde wieder kälter. Der Himmel besaß hier eine ganz andere Farbe — war nicht einfach grau, wie im Wald, sondern nahm gegen Abend eine alarmierende Tönung an: rötlich—violett. Das erschreckte sie, denn ein solcher Himmel verhieß nichts Gutes.
Sie verspürten den unwiderstehlichen Drang zu essen, Oleg hätte sogar Steine gekaut. Die unverschämte Ziege aber, kaum daß sie die Säcke von den Schultern in den Schnee geworfen hatten, lief hin und wühlte mit dem Maul darin, so als hätten die Leute nur eins im Sinn: den Proviant vor ihr zu verstecken.
„Wirst du wohl verschwinden!“ rief Oleg und warf einen Stein nach ihr. Die Ziege sprang meckernd zur Seite.
„Laß sie“, sagte Marjana. Sie wirkte vor Erschöpfung fast gesichtslos, war irgendwie dunkler geworden nach diesem Tag, ja, kleiner und schmächtiger. „Sie versteht das doch nicht und glaubt, man würde ihr zu essen geben. Sie braucht’s nötiger als wir Menschen.“
All diesem Abend schlug Dick das Mädchen.
Sie kauten auf den letzten Fleischbrocken herum, es waren kleine, trockene Stücken. Dazu tranken sie heißes Wasser. Das Ganze war Gaukelei und keine Mahlzeit, denn man mußte wenigstens eine Handvoll solcher Fleischhappen zu sich nehmen, um sich halbwegs satt zu fühlen. Marjana aber steckte ihre Ration heimlich dieser unglücklichen Ziege zu, in dem Glauben, niemand würde es bemerken. Natürlich bemerkten es alle, außer Thomas, der einer Ohnmacht nahe war. Oleg schwieg dazu, wollte Marjana später sagen, daß es dumm sei. Er verstand das Mädchen, verstand aber genausogut, daß es unklug war, die Ziege zu füttern, wenn man selbst fast verhungerte.
Dick dagegen schwieg nicht. Er streckte die Hand aus, eine lange Hand mit großen, kräftigen Fingern, und versetzte Marjana übers Feuer hinweg, kurz und heftig, eine Backpfeife.
„Weshalb denn?!“ rief das Mädchen erschrocken.
Oleg stürzte sich auf Dick, der jedoch schleuderte ihn mit Leichtigkeit beiseite.
„Idioten“, sagte Dick böse, „ein Haufen Idioten. Wollt ihr euch etwa selber durch Hungern zugrunderichten? Ihr schafft’s nie bis zum Paß!“
„Es war mein Fleisch“, sagte Marjana mit trockenen, bösen Augen, „ich will nicht essen!“ „Du willst“, erwiderte Dick. „Wir haben für morgen nur noch zwei Fleischstücken pro Mann, nur zwei! Dabei müssen wir ständig bergauf. Ach, weshalb hab ich mich bloß mit euch eingelassen!“
Er griff plötzlich nach einem Messer und warf es, ohne sich umzudrehen, voller Wucht nach der Ziege. Das Messer, ein grünliches Fellbüschel absäbelnd, prallte klirrend gegen die Felswand. Dick sprang auf, die Ziege machte einen Satz zur Seite, wobei sich das Seil spannte.
Dick hob das Messer auf, seine Spitze war abgebrochen.
„Idioten“, rief er, „warum will hier denn niemand was begreifen! Wieso begreift keiner, daß wir nie mehr zurückkehren!“ Dabei sah er weder Marjana an, die zu weinen begonnen hatte, noch Oleg, dem nichts Besseres einfiel, als dem Mädchen sein bißchen Fleisch zuzustecken, als wär sie ein kleines Kind. Marjana stieß seine Hand fort, Dick aber breitete hastig seine Decke aus, legte sich der Länge lang drauf und schloß die Augen. Er schlief ein oder tat zumindest so.
Thomas hustete welk, als hätte er nicht einmal mehr dazu die Kraft.
Oleg erhob sich und wickelte ihn in die Zeltplane. Dann legten er und Marjana sich rechts und links von ihm nieder, um ihn zu wärmen. Es schneite. Der Schnee war nicht kalt, bedeckte sie mit einer dicken Schicht. Erst als es finster wurde, kam die Ziege und gesellte sich zu ihnen — sie schien zu verstehen, daß es für alle zusammen wärmer war. Oleg schlief auch in dieser Nacht kaum, wenigstens glaubte er das. Ihm war, als würde ein Riesenwesen in ihrer Nähe vorbeigehen und das bläuliche Morgenlicht verdunkeln. Dann wurde es schlagartig kälter — die Ziege war aufgestanden, um sich Nahrung zu suchen. Oleg aber wurde von einem Floh gebissen; es war unerklärlich, wo er herkam. Vielleicht hatte er in der Kleidung gesteckt, vielleicht auch im Ziegenfell.
Der Schneefloh hatte einen spezifischen, unverwechselbaren Biß. Nein, keiner konnte ihn verwechseln, und sie hatten bis jetzt auch noch kein Mittel gefunden, sich vor diesen Flöhen zu schützen, kein Gegengift entwickeln können. Dieser Biß war hoffnungslos wie der Tod, man mochte weinen, schreien, Hilfe rufen “