Oleg gab keine Antwort. Er begriff, daß sie Thomas unter keinen Umständen zurücklassen durften. Sie durften ihm sein Ziel nicht nehmen, das würde ihn töten … Wenn Dick nun aber dachte, er, Oleg, hätte Angst, mit ihm allein weiterzugehn?
„Hast wohl Angst gekriegt?“ fragte Dick.
„Nicht um mich“, erwiderte schließlich Oleg. „Wenn Thomas krank ist, kann er Marjana nicht beschützen. Und Marjana ihn ebensowenig. Was aber ist, wenn Tiere kommen? Raubtiere? Wie soll sie mit ihnen fertig werden?“
„Du wirst doch mit ihnen fertig, Marjaschka?!“ Dick fragte nicht, er befahl, als hätte er das Recht, Befehle zu erteilen.
„Ich schaffe es schon“, sagte Thomas, „habt keine Angst, Freunde, ich schaffe es. Ich muß einfach … ich geh doch seit sechzehn Jahren zum Paß, versteht ihr, seit sechzehn Jahren …“ Thomas sprach hastig, mit heißer Stimme, wie unter Tränen.
„Dann schlaf jetzt“, sagte Dick nach einer längeren Pause, in der niemand sprach, niemand ihm zustimmte oder ihn vom Gegenteil überzeugte.
Am nächsten Morgen aber fand die Auseinandersetzung ganz von allein ein Ende. Aus einem einfachen Grund.
Oleg stand als erster auf: mit schmerzendem Kopf und Beinen wie aus Holz; sein Rücken war eiskalt bis hin zur Wirbelsäule. Er kroch aus der Nische und entdeckte auf der weißen Fläche des Hochplateaus eine Reihe von Vertiefungen, die er nicht sofort als Fährte erkannte. Es sah aus, als hätte jemand große Fässer in den Schnee gedrückt.
Oleg weckte Dick, und sie verfolgten vorsichtig die Spuren. Die Fährte endete an einem Steilhang — das unbekannte Wesen konnte demnach Felsen erklimmen.
„Was ist das für ein Tier?“ fragte Oleg flüsternd.
„Keine Ahnung. Aber wenn es sich auf ein Haus legt, wird’s zerquetscht“, sagte Dick. „So ein Vieh zu erlegen, das wär was!“
„Da gibt’s wohl wenig Hoffnung, trotz deiner Armbrust“, wandte Oleg ein. „Dein Pfeil durchbohrt ihm nicht mal das Fell.“
„Ich werd mir schon Mühe geben“, sagte Dick. „Gehen wir zurück?“
„Weißt du, ich möchte Thomas und Marjaschka wirklich nicht gern hier lassen“, sagte Oleg. „Ich bestehe nicht darauf“, sagte Dick, „obwohl sich’s bei diesem Tier durchaus um einen Pflanzenfresser handeln kann.“
„Selbst wenn’s ein Wandergewächs wie der Wegerich wäre“, erwiderte Oleg, „wir dürfen kein Risiko eingehn.“
„Wo habt ihr gesteckt?“ erkundigte sich Marjana, die beim Feuermachen war. „Thomas’ Temperatur ist zurückgegangen, ist das nicht schön?“
„Sehr schön.“
Sie erzählten von der Fährte, denn das Mädchen hätte sie ohnehin entdeckt. Doch Marjana erschrak kein bißchen — klar, daß es hier alle möglichen Tiere gab! Wenn man richtig mit ihnen umging, waren sie längst nicht alle böse und gefährlich. Außerdem beschäftigte sie sich mit ihren eigenen Angelegenheiten.
„Setzt euch“, sagte Marjana, „wir wollen frühstücken.“
Thomas kam aus dem Zelt, er war blaß und schwach, in der Hand hielt er die Feldflasche. Er ließ sich neben Oleg nieder, schraubte den Verschluß ab und nahm einen Schluck.
„Ich muß mich aufwärmen“, sagte er heiser. „Früher haben die Ärzte den Kranken und Schwachen Rotwein verschrieben.“
Marjana langte nach ihrem Sack — ein Pilz rollte heraus. Sonst aber war er zerbissen und leer.
„Wo sind denn die Pilze hin?“ fragte Marjana Thomas, als müßte er eine Antwort wissen. „Was denn“, Dick sprang auf, „hast du den Sack über Nacht nicht ins Zelt genommen?“
„Ich war so müde“, sagte Marjana. „Ich dachte, ich hätte es getan, aber er muß draußen geblieben sein.“
„Wo ist das verdammte Ziegenvieh“, zischte Dick, „das wird sie büßen!“
„Du bist verrückt!“ schrie Marjana. „Vielleicht war sie es gar nicht!“
„Wer sonst! Du vielleicht, Thomas, oder ich?! Was sollen wir jetzt fressen, und wie bis zum Paß kommen!“
„Wir haben noch das Fleisch“, sagte Marjana.
„Zeig her. Vielleicht ist es ebenfalls verschwunden.“
„Was soll die Ziege mit dem Fleisch?“ erwiderte Marjana.
Doch Dick behielt recht — das Fleisch war gleichfalls weg. Etwa zwanzig kleine Stücke waren noch übrig, mehr nicht.
„Ich scherze nicht.“ Dick hob seine Armbrust vom Schnee auf.
Die Ziege schien das ihr drohende Unheil zu ahnen und sprang jäh hinter den Felsen.
„Du entkommst mir nicht“, sagte Dick.
„Warte“, rief Oleg, „so warte doch. Wenn’s sein muß, kannst du’s immer noch tun. Marjana will eine Viehwirtschaft aufbaun, verstehst du nicht, wie wichtig das für die Siedlung wäre? Wir hätten auf diese Weise immer Fleisch.“ „Für die Siedlung ist wichtig, daß wir hier nicht verrecken“, erwiderte Dick. „Wir sind die Hoffnung des Dorfes. Ohne uns erreicht auch die Ziege die Siedlung nicht, weil sie nämlich gleichfalls nichts zu fressen hat. Sie wird fortlaufen.“
„Bitte, Dick, tu’s nicht“, flehte Marjana. „Begreif doch, sie bekommt Junge.“
„Dann kehren wir jetzt um“, sagte Dick. „Unser Marsch ist beendet. Es hat keinen Sinn mehr.“
„Moment mal“, schaltete sich Thomas ein, „noch liegt die Entscheidung bei mir. Wenn du es willst, erlaube ich dir umzukehren. Du schaffst es in die Siedlung, daran zweifle ich nicht. Ich aber setze den Weg fort. Und mit mir alle, die es wünschen.“
„Ich marschiere weiter“, sagte Oleg. „Wir können nicht noch mal drei Jahre bis zum nächsten Sommer warten.“
„Ich geh auch weiter“, sagte Marjana, „und Dick kommt ebenfalls mit. Er ist nicht so böse, wie ihr glaubt. Er möchte nur, daß es allen gut geht.“
„Du brauchst mich nicht in Schutz zu nehmen“, sagte Dick, „ich bring das Vieh trotzdem um.“
„Für heute reicht unser Essen noch“, sagte Marjana.
„Es wär wirklich nicht schlecht, zusammen mit der Ziege heimzukehren“, ließ sich Thomas vernehmen. „Wir könnten sie sogar beladen. Und überhaupt kommen wir doppelt so schnell voran wie damals.“ Thomas nahm einen weiteren Schluck Kognak und schwenkte die Feldflasche. Nach dem Klang zu urteilen, war nur noch ganz wenig Feuerwasser darin.
„Ein Tag noch“, sagte Dick, „dann ist es zu spät zum Umkehren. Das betrifft dich, Thomas, in ganz besonderem Maße. Du verstehst doch, was ich meine.“
Marjana machte sich am Feuer zu schaffe, sie hatte es eilig, Wasser zum Kochen zu bringen. Sie hatte noch ein paar süße Wurzeln, zwei Handvoll.
Bereits nach zwei Stunden Fußmarsch kam Oleg zu der Einsicht, daß Dick recht hatte. Sie bewegten sich auf unwegsamem Gelände, auf schneebedecktem Ödland, es führte unablässig bergauf, sie mußten immer wieder Felsen umgehen, sich durch Felsspalten zwängen, Gletscher überwinden, die Luft und war scharf und schneidend und machte das Atmen schwer. Oleg war es gewohnt, wenig zu essen, niemals satt zu werden, dennoch hatte er nie hungern müssen — irgendwelche Vorräte hatte es im Dorf stets gegeben. Hier jedoch stürzte der Hunger, ihr ständiger Begleiter, mit aller Wucht in dem Augenblick über ihn her, als klar wurde, daß endlose Tage ohne Nahrung, ohne jeden Bissen vor ihnen lagen. Oleg ertappte sich dabei, daß er begehrliche Blicke auf die Ziege warf, er hoffte, sie würde in eine Felsspalte stürzen, unverhofft draufgehn, so daß er seine Worte nicht zurücknehmen mußte. Wir werden eine andere finden, beteuerte er lautlos, ganz bestimmt werden wir eine andere finden.
Und als hätte Thomas seine Gedanken erraten, sagte er: „Ein Glück, daß unsre Fleischreserven auf eignen Füßen mitlaufen. Wir hätten jetzt nicht die Kraft, sie zu schleppen.“
„Halt!“
Es war die Stimme Dicks. Er näherte sich, ein kräftiges aus Wasserpflanzen geflochtenes Seil in den Händen, der Ziege und warf es ihr um den Hals. Das Tier ließ es gehorsam und ergeben geschehen. Dann reichte Dick das andere Ende des Stricks Marjana und sagte: „Führ du sie.
Ich möchte nicht in Versuchung geraten.“
Oleg hatte mächtig zu kämpfen. Er schüttelte das Holz aus Thomas’ Sack — er hatte schon am eigenen genug zu schleppen. Seine Schultern schmerzten, und er schnappte nach Luft.