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Oleg hatte alles Zeitgefühl verloren. Er wartete erneut und erneut auf das Einsetzen der Stimme, der er keine Antwort geben konnte, die ihn aber bereits mit der Zukunft verband, mit jenem Augenblick, da er würde antworten können.

Das leise Klingeln der Armbanduhr rief ihn in die Wirklichkeit zurück — Dick hatte diese Uhr in seiner Kabine gefunden und ihm gegeben. Das Klingeln ertönte alle fünfzehn Minuten. Möglich, daß es so seine Richtigkeit hatte, vielleicht war sie aber auch einfach kaputt.

Oleg erhob sich und sagte zur Erdenstimme: „Auf Wiedersehen!“ Dann begab er sich zum Ausgang des Schiffes, den Sack mit den Lehrbüchern hinter sich herschleifend, von denen er kein einziges Wort begriff.

Dick und Marjana warteten unten bereits auf ihn.

„Ich wollte dich schon holen“, sagte Dick „willst du vielleicht für immer hier bleiben?“ „Ich hätte nichts dagegen“, antwortete Oleg. „Ich hab nämlich die Erde sprechen hören.“

„Wo?!“ rief Marjana.

„In der Funkzentrale.“

„Hast du ihr gesagt, daß wir hier sind?“

„Sie hören uns nicht. Das muß ein Automat sein. Die Funkverbindung ist doch zerstört, hast das vergessen?“

„Und wenn sie trotzdem wieder arbeitet?“

„Nein“, sagte Oleg, „das kann sie nicht. Aber Tages wird sie es.“

„Willst du das in Ordnung bringen?“

„Hier drin hab ich alle möglichen Bücher“, sagte Oleg, „ich werde sie auswendig lernen.“

Dick schnaufte skeptisch.

„Dick, Dickilein“, bat Marjana, „einen Augenblick nur.

Ich lauf schnell rüber und hör mir die Stimme von der Erde an. Es geht ganz schnell. Komm doch mit, ja?“

„Wer soll das alles schleppen“, brummte Dick mit einem Blick auf den Sack mit den Büchern. „Hast du vergessen, wieviel Schnee auf dem Paß liegt?“

Er fühlte sich schon wieder als Chef. Hinter seinem Gürtel sah man den Blastergriff stecken. Die Armbrust hatte er deswegen natürlich nicht aufgegeben.

„Ich werd’s schon schaffen“, sagte Oleg und stellte den Sack im Schnee ab. „Komm, Marjaschka, du sollst die Stimme hören. Um so mehr, als ich das Wichtigste vergessen habe. Hast du in der Krankenabteilung irgendwo ein kleines Mikroskop gesehen?“

„Nicht nur eins“, erwiderte Marjana.

„Na gut“, sagte Dick, „ich komme auch mit.“

***

Sie spannten sich zu dritt vor den Schlitten und zogen ihn zunächst den Steilhang des Talkessels hinauf, danach über die Hochebene und schließlich wieder bergab. Schnee fiel, und das Laufen bereitete ihnen Mühe. Aber es war nicht kalt, und vor allem hatten sie viel zu essen. Die leeren Konservenbüchsen warfen sie nicht weg.

Am vierten Tag, als sie den Abstieg in die Schlucht begannen, wo der Bach floß, vernahmen sie plötzlich ein vertrautes Meckern.

Die Ziege lag unter einem Felsdach unmittelbar am Wasser.

„Sie hat auf uns gewartet!“ rief Marjana.

Das Tier war so abgemagert, daß man meinen könnte, es würde jeden Augenblick sterben. Drei puschlige Zicklein machten sich auf der Suche nach den Zitzen an ihrem Bauch zu schaffen.

Marjana schlug schnell die Schlittenplane zurück und begann in den Säcken nach Nahrung für die Ziege zu suchen.

„Aber vergifte sie nicht“, sagte Oleg. Die Ziege kam ihm sehr schön vor, und er freute sich über sie, fast so wie Marjana, ja selbst Dick hegte keinen Groll mehr, er war ein gerechter Mensch.

„Warst schlau, als du vor mir Reißaus genommen hast“, sagte er zu dem Tier, „ich hätte dich wahrscheinlich getötet. Jetzt aber können wir dich vor Schlitten spannen.“

Das freilich gelang nicht. Mit geblähtem Rüssel zeterte sie so, daß die Felsen bebten. Auch die Jungen entpuppten sich als ziemliche Schreihälse, die mit ihrer Mutter mitfühlten.

So setzten sie ihren Weg fort: Dick und Oleg zogen den Schlitten, Marjana stützte von hinten ab, damit er nicht umstürzte, und den Schluß bildete die Ziege mit ihren Jungen. Sie maulte, wollte nichts als fressen. Selbst als sie endlich im Wald waren, wo es Pilze und Süßwurzeln gab, verlangte sie nach wie vor Kondensmilch, obwohl sie — ebenso wie die Wanderer — nicht wissen konnte, daß diese süße Masse Kondensmilch hieß.

***

Kirill Bulytschow ist das Pseudonym eines Moskauer Orientalisten, der unter diesem Namen zu einem der führenden sowjetischen Phantastikautoren wurde. In Zeitschriften, Anthologien und in den Sammelbänden „Wunder in Guslar“ (1972), „Menschen wie du und ich“

(1975), „Sommermorgen“ (1979) und „Der Gebirgspaß“

(1983) hat er seit 1966 zahlreiche Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlicht. Außerdem entstammen seiner Feder mehrere Science-fiction Kinderbücher, darunter die auch in der DDR (1984) erschienene Sammlung „Das Mädchen von der Erde“. In deutscher Übersetzung liegen darüber hinaus seine Phantastik-Auswahl „Ein Takan für die Kinder der Erde“

(DDR: 1976), die phantastische Erzählung „Das Mars-Elixier“ (DDR: 1980) und — diesmal unter seinem wirklichen Namen Igor Moshejko — das Sachbuch „Am Mast der Totenkopf„(DDR: 1981) vor. Als Drehbuchautor hat er an mehreren sowjetischen SF-Filmen mitgearbeitet, u.a. an „Die Frau aus dem All“, und dafür zweimal den sowjetischen Staatspreis für Kunst und Literatur erhalten. Kirill Bulytschow

ISBN 3-360-00056-0

Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1986 (deutschsprachige Ausgabe und Illustrationen) Lizenz-Nr.: 409–160/22/232/86 · LSV 7204

Umschlag — und Einbandentwurf: Roswitha Grüttner

Printed in the German Democratic Republik

Lichtsatz: INTERDRUCK Graphischer Großbetrieb Leipzig —

III/18/97 Druck und buchbinderische Weiterverarbeitung LVZ-Druckerei “Hermann Duncker“ Leipzig — III/18/138 622 723 5 00580

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