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Doch die Schüler wollten den Wurm unbedingt herausziehn, und Oleg wußte auch, warum. Der Wurm würde dann seine Farbe wechseln, wäre mal rot, mal blau, und das interessierte sie. Allerdings nur sie, nicht aber die Mütter, die panische Angst vor den Würmern hatten, obwohl diese im allgemeinen keinen Schaden anrichteten und feige waren.

Linda, die Frau von Thomas, stand am Rand der Pfütze und rief ihre Tochter.

Oleg, der Frage seiner Mutter zuvorkommend, sagte: „Ich bin gleich wieder da.“

Er trat aus der Tür und schaute zum Ende der Straße, wo am Zauntor Thomas stand, die Armbrust im Anschlag.

Seine Haltung verriet Anspannung.

Da stimmt was nicht, dachte Oleg, ich hab’s geahnt.

Dick hat sie Gott weiß wohin entführt, und nun ist was passiert. Dick kommt gar nicht auf die Idee, daß sie ganz anders ist als er, ein Mädchen noch, das man beschützen muß.

Die Kinder hatten den Wurm inzwischen aus dem Wasser gezogen, er war jetzt fast schwarz, konnte sich nicht damit abfinden, gefangen zu sein. Auch Ruth war gefangen, sie wurde von ihrer Mutter nach Hause geschleppt. Oleg rannte zum Zaun, obwohl ihm einfiel, daß er seine Armbrust vergessen hatte und somit kaum von Nutzen wäre.

„Was ist los?“ erkundigte er sich bei Thomas.

Der andere erwiderte, ohne sich umzudrehen: „Ich glaube, die Schakale treiben sich wieder hier rum. Ein ganzes Rudel.“

„Das von heut nacht?“

„Keine Ahnung. Früher haben sie sich tagsüber nicht blicken lassen. Wartest du auf Marjana?“

„Sie ist mit Dick in die Pilze.“

„Ich weiß, hab sie ja selbst durchgelassen. Hab keine Angst, mit ihm passiert ihr nichts. Er ist der geborene Jäger.“

Oleg nickte. Die Worte klangen kränkend, obwohl Thomas ihn keineswegs hatte beleidigen wollen. Auf Dick konnte man einfach mehr bauen. Er war Jäger, Oleg nicht.

Als ob es, die höchste Errungenschaft der Menschheit wäre, Jäger zu sein!

„Ich versteh dich ja“, Thomas lächelte unvermittelt, ließ die Armbrust sinken und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Zaunpfahl, „aber es ist eine Frage der Priorität.

In einer kleinen Gemeinschaft wie der unseren zählen mathematische Fähigkeiten weniger als die, einen Bären zu töten. Das ist ungerecht, doch verständlich.“

Das Lächeln von Thomas war höflich, die langen schmalen Lippen bildeten in den Mundwinkeln einen Knick, als fänden sie keinen Platz im Gesicht. Das Gesicht selbst war schwärzlich und voll tiefer Falten, die Augen aber glänzten noch dunkler. Das Augenweiß dagegen war gelb. Thomas war leberkrank und davon kahlköpfig geworden. Auch hatte er eine schwache Lunge, er hustete viel. Trotzdem war er zäh und kannte den Weg zum Paß besser als alle andern.

Thomas warf die Armbrust hoch und schoß, ohne zu zielen einen Pfeil ab. Oleg sah in die Richtung, in die der Pfeil pfeifend entschwand. Der Schakal schaffte es nicht mehr, auszuweichen. Er fiel aus den Zweigen, als hätten sie ihn in der Schwebe gehalten und dann losgelassen. Das Tier stürzte ins Gras und zuckte noch ein paarmal, bevor es verendete.

„Ein Meisterschuß“, sage Oleg.

„Danke. Wir müssen ihn schnell fortschaffen, bevor die Aasgeier über ihn herfallen.“

„Ich bring ihn her“, erbot sich Oleg.

„Nein“, widersprach Thomas, „er war nicht allein. Lauf lieber und hol deine Armbrust. Wenn Dick und Marjana aus dem Wald kommen, müssen sie an dem Rudel vorbei.

Wie viele Tiere hat so ein Rudel?“

„Ich habe heute nacht sechs gezählt“, sagte Oleg.

Der Schakal lag da, den schwarzen Rachen weit geöffnet, das weiße Fell gesträubt wie Nadeln.

Oleg war schon losgelaufen, um die Armbrust zu holen, als er auf ein Pfeifen von Thomas hin stehen blieb. Es war das bekannte laute Pfeifen, das man in jedem Winkel der Siedlung hörte. Es bedeutete: Alle Mann zu Hilfe!

Sollte er umkehren? Nein, es war wohl doch besser, erst die Armbrust zu holen. Es würde nur eine Minute dauern.

„Was gibt’s dort?“ fragte die Mutter. Sie stand in der Tür.

Er stieß sie beiseite und griff sich die Armbrust von der Wand, wobei er fast den Haken herausriß. Wo waren die Pfeile? Unter dem Tisch? Hoffentlich hatten die Zwillinge sie nicht fortgeschleppt.

„Die Pfeile sind hinter dem Herd“, sagte die Mutter.

„Was ist passiert? Etwas mit Marjana?“

Der Alte kam mit einem Speer aus dem Haus gestürzt.

Er konnte nicht mit der Armbrust umgehn — wie sollte er auch, mit einem Arm? Oleg überholte ihn und zog einen Pfeil aus dem Köcher, was man im Laufen besser nicht tat.

Die ganze Kinderschar Dorfes stürmte zum Zaun.

„Zurück mit euch!“ rief Oleg drohend, doch niemand gehorchte.

Neben Thomas stand bereits Sergejew, einen großen Bogen in der Hand. Die Männer verharrten reglos, lauschten angespannt. Sergejew hob die Hand, an der zwei Finger fehlten, gebot jenen, die angerannt kamen, stehenzubleiben.

Da ertönte aus der glatten grauen Wand des Waldes ein Schrei. Es war der Schrei eines Menschen, fern, kurz, wie abgehackt. Danach unendliche Stille, denn kein Mensch in der Siedlung wagte zu atmen. Selbst die Säuglinge in der Wiege verstummten. Und Oleg stellte sich vor, mehr noch, er sah förmlich, wie dort, hinter der Wand von Regen und weißlichen Stämmen, in dem Wald, der lebte, atmete, voller Bewegung war, Marjana stand, den Rücken gegen die warme, brennende Rinde der Kiefer gepreßt, während Dick auf den Knien liegend — Blut spritzt aus seiner von den Schakalzähnen zerfetzten Hand —, versucht den Speer zu fassen … „Alter!“ rief Thomas. „Bleib hier am Zaun. Du, Oleg, kommst mit uns!“

Am Waldrand wurden sie von Tante Luisa mit ihrer berühmten Axt eingeholt — sie hatte damit im vorigen Jahr einen Bären abgewehrt. In der anderen Hand hielt sie ein schwelendes Holzscheit. Tante Luisa war eine große, dicke, furchteinflößende Frau; ihre kurzen grauen Zotteln standen in alle Richtungen, ihr sackförmiges Kleid war zur Glocke gebläht. Selbst die Bäume zogen ängstlich die Zweige zurück und rollten die Blätter ein, denn Tante Luisa war wie der böse Geist, der zur Winterszeit in der Schlucht brüllte. Als sie über eine Räuberliane stolperte, stürzte die, statt ihr Opfer mit den Fangarmen packen, zum Stamm und versteckte sich dahinter wie eine feige Schlange.

Thomas blieb so unvermittelt stehen, daß Sergejew um ein Haar auf ihn aufgerannt wäre. Dann steckte er zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus, wie ihn kein anderer im Dorf zustande brachte. Als der Pfiff verhallte, wurde Oleg klar, wie sehr der Wald dieses Füßestampfen fürchtete, diesen Alarm und den Unmut der Menschen; ganz klein machte er sich. Nur das schwere Atmen der korpulenten Tante Luisa war zu hören.

„Hierher!“ rief Marjana. Ihre Stimme war ganz nahe. Es klang auch weniger wie ein Schrei, sondern so, als ob man jemanden vom anderen Ende der Siedlung riefe. Dann, als sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten, vernahm Oleg die Stimme Dicks, genauer sein fast tierisches Brüllen und das wilde Toben eines Schakals.

Oleg scherte seitlich aus, um Tante Luisa zu überholen, doch vor ihm tauchte der Rücken Sergejews auf, der sich nicht einmal richtig angezogen hatte, ohne Jacke war, nur mit Hemd und Lederhose bekleidet. Marjana aber stand da, wie Oleg sie vor seinem geistigen Auge gesehen hatte: gegen den weichen weißen Stamm einer alten dicken Kiefer gepreßt, der sich leicht nach innen bog, als wollte er dem Mädchen Schutz bieten. Dick dagegen lag nicht auf den Knien. Er kämpfte mit einem Messer gegen einen großen grauen Schakal, der den Hieben auswich, zischend und sich verrenkend. Ein anderer Schakal wälzte sich seitlich auf der Erde, er hatte einen Pfeil in der Flanke.

Fünf weitere Tiere, wenn nicht mehr, saßen abseits in einer Reihe, wie Zuschauer. Es war eine seltsame Eigenschaft der Schakale, niemals im Trupp anzugreifen, sondern abzuwarten. Wenn der erste mit dem Opfer nicht fertig wurde, attackierte der nächste. Und das solange, bis sie gesiegt hatten. Sie empfanden kein Mitleid füreinander, begriffen die Sache gar nicht. Sergejew hatte eines Tages einen Schakal seziert und nicht ein Stückchen Gehirn bei ihm gefunden.

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