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45.

Ein Tragödien-Ausgang der Erkenntniss. — Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht könnte mit Einem ungeheuren Gedanken immer noch jede andere Bestrebung niedergerungen werden, sodass ihm der Sieg über den Siegreichsten gelänge, — mit dem Gedanken der sich opfernden Menschheit. Wem aber sollte sie sich opfern? Man kann bereits darauf schwören, dass, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntniss der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel übrig geblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wäre, weil ihm kein Opfer zu gross ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte möglich sind, die Erkenntniss zu fördern; geschweige denn, welcher Erkenntnisstrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntniss hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgetheilt hat: vielleicht, dass dann die Begeisterung der Erkenntniss auf eine solche Fluth-Höhe kommt!

46.

Zweifel am Zweifel. — »Welch' gutes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgebauten Kopf!«— diess Wort Montaigne's hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte Niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch? —

47.

Die Worte liegen uns im Wege! — Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! — sie hatten an ein Problem gerührt und indem sie wähnten, es gelöst zu haben, hatten sie ein Hemmniss der Lösung geschaffen. — Jetzt muss man bei jeder Erkenntniss über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort.

48.

«Erkenne dich selbst «ist die ganze Wissenschaft. — Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Gränzen des Menschen.

49.

Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. — Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift» nihil humani a me alienum puto«). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge — und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen! — es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer» Erdenbahn «zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!

50.

Der Glaube an den Rausch. — Die Menschen der erhabenen und verzückten Augenblicke, denen es für gewöhnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwenderischen Abnützung ihrer Nervenkräfte, elend und trostlos zu Muthe ist, betrachten jene Augenblicke als das eigentliche Selbst, als» sich«, das Elend und die Trostlosigkeit als die Wirkung des» Ausser-sich«; und desshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit, ihre ganze Welt mit rachsüchtigen Gefühlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben, als das eigentliche Ich: in allem Anderen sehen sie die Gegner und Verhinderer des Rausches, sei dieser nun geistiger, sittlicher, religiöser oder künstlerischer Natur. Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit viel übles: denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der Unzufriedenheit mit sich und den Nächsten, der Zeit- und Weltverachtung und namentlich der Welt-Müdigkeit. Vielleicht könnte eine ganze Hölle von Verbrechern nicht diese drückende, land- und luftverderbende, unheimliche Nachwirkung in die fernste Ferne hin haben, wie jene kleine edle Gemeinde von Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genie's, die sich nicht beherrschen können und allen möglichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich völlig verlieren: während der Verbrecher sehr oft noch einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit giebt und diese Eigenschaften bei Denen, welche ihn fürchten, wach erhält. Durch ihn wird der Himmel über dem Leben vielleicht gefährlich und düster, aber die Luft bleibt kräftig und streng. — Zu alledem pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben an den Rausch als an das Leben im Leben: einen furchtbaren Glauben! Wie die Wilden jetzt schnell durch das» Feuerwasser «verdorben werden und zu Grunde gehen, so ist die Menschheit im Ganzen und Grossen langsam und gründlich durch die geistigen Feuerwässer trunken machender Gefühle und durch Die, welche die Begierde darnach lebendig erhielten, verdorben worden: vielleicht geht sie noch daran zu Grunde.

51.

So wie wir noch sind! — »Seien wir nachsichtig gegen die grossen Einäugigen!«— hat Stuart Mill gesagt: als ob Nachsicht zu erbitten nöthig wäre, wo man gewöhnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen! Ich sage: seien wir nachsichtig gegen die Zweiäugigen, grosse und kleine, — denn höher, als bis zur Nachsicht werden wir, so wie wir sind, es doch nicht bringen!

52.

Wo sind die neuen Arzte der Seele? — Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die grösste Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betäubenden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja, man merkte es nicht einmal, dass man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesammtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, — dafür sorgten die Arzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. — Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe: wo ist Der, welcher endlich auch einmal die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist?

53.

Missbrauch der Gewissenhaften. — Die Gewissenhaften und nicht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Busspredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade Denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmuthige Bilder nöthig hatten — nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinüber nehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit und Thierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuss ihrer Macht haben wollten!

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