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41.

Zur Werthbestimmung der vita contemplativa. — Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, — kurz, welche Gegenrechnung die vita activa uns zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohlthaten uns vor ihr brüsten. Erstens: die sogenannten religiösen Naturen, welche der Zahl nach unter den Contemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Species abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen und es ihnen womöglich zu verleiden: den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoffnungen entwerthen, die thätige Hand lähmen, — das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfindungen ihre Tröstungen, Almosen, Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Zweitens: die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen: diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. Drittens: die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfinden, doch so, dass etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstriren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Viertens: die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruss und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für Alle geworden: wenn dieses Nutzens halber jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweisse ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die Schaar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld; es ist» selbstgeschaffene Pein«.

42.

Herkunft der vita contemplativa. — In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urtheile über Mensch und Welt herrschen, ist der Einzelne im Gefühle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urtheilen gemäss zu handeln, also die Vorstellung in Action zu übersetzen, durch Jagd, Raub, Überfall, Misshandlung und Mord, eingerechnet die blässeren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Lässt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermüthig oder übersättigt und in Folge davon zeitweilig wunsch- und begierdenlos, so ist er da ein verhältnissmässig besserer, das heisst weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel über den Werth seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Götter, — seine Urtheile werden böse Urtheile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebräuche aus, oder er spottet seiner Feinde — : was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse müssen seinen Zustand wiederspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermüdung, die Abnahme seiner Schätzung des Handelns und Geniessens; der Gehalt dieser Erzeugnisse muss dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entsprechen; das böse Urtheil muss darin regieren. Später nannte man alle Die, welche andauernd thaten, was früher der Einzelne in jenem Zustande that, welche also böse urtheilten, melancholisch und thatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder Medicinmänner — : man würde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne gering geschätzt und aus der Gemeinde gestossen haben; aber es gab eine Gefahr dabei, — sie waren dem Aberglauben und der Spur göttlicher Kräfte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, dass sie über unbekannte Mittel der Macht geböten. Diess ist die Schätzung, in der das älteste Geschlecht contemplativer Naturen lebte, — genau so weit verachtet, als sie nicht gefürchtet wurden! In solcher vermummter Gestalt, in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe ist die Contemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im Geheimen verachtet und öffentlich mit abergläubischer Ehrerbietung überschüttet! Hier, wie immer, muss es heissen: pudenda origo!

43.

Wie viele Kräfte jetzt im Denker zusammenkommen müssen. — Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstracten zu erheben, — das ist wirklich einmal als Erhebung gefühlt worden: wir können es nicht ganz mehr nachempfinden. Das Schwelgen in den blassesten Wort- und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhörbaren, unfühlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer anderen höheren Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren verführerischen und bösen Welt heraus.»Diese Abstracta verführen nicht mehr, aber sie können uns führen!«— dabei schwang man sich wie aufwärts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind» das Höhere «in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Daher Plato's Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre nothwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmählich entdeckt worden, sondern auch die Mittel der Erkenntniss überhaupt, die Zustände und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerthen sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraction, die Entsinnlichung, die Erfindung, die Ahnung, die Induction, die Dialektik, die Deduction, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersönliche Denkweise, die Beschaulichkeit und die Zusammenschauung und nicht am Wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen Alles, was da ist, nöthig, — aber alle diese Mittel haben einzeln in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfindern gegeben, welche beim Aufleuchten eines letzten Zweckes in die menschliche Seele kommt.

44.

Ursprung und Bedeutung. — Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben? — dass ehemals die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer Etwas von dem zu finden meinten, was von unschätzbarer Bedeutung für alles Handeln und Urtheilen sei, ja, dass man stets voraussetzte, von der Einsicht in den Ursprung der Dinge müsse des Menschen Heil abhängen: dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprunge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind; ja, dass alle unsere Werthschätzungen und» Interessirtheiten«, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit unserer Erkenntniss zurück und an die Dinge selbst heran gelangen. Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu: während das Nächste, das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel und Reichthümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen liess. Ehemals giengen die Denker gleich eingefangenen Thieren ingrimmig herum, immer nach den Stäben ihres Käfigs spähend und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen: und selig schien der, welcher durch eine Lücke Etwas von dem Draussen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.

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