96.
«In hoc signo vinces.«— So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag: in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, dass in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, dass die Priester mächtiger seien, als die Götter, und zweitens, dass die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: wesshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Ceremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr! Einen Schritt weiter: und man warf die Götter bei Seite, — was Europa auch einmal thun muss! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nöthig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, trat auf: — wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Cultur! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt — ja was kommt dann? Doch rathen wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, dass Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens gethan wurde! Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa's, welche nicht mehr» an Gott glauben«, — ist es zu viel gefordert, dass sie einander ein Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, — sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!
Zweites Buch
97.
Man wird moralisch, — nicht weil man moralisch ist! — Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nichts Moralisches.
98.
Wandel der Moral. — Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, — das bewirken die Verbrechen mit glücklichem Ausgange (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören).
99.
Worin wir Alle unvernünftig sind. — Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, — durch unsere Gefühle.
100.
Vom Traume erwachen. — Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt: edle und weise Menschen glauben noch immer an die» sittliche Bedeutung des Daseins«. Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte.
101.
Bedenklich. — Einen Glauben annehmen, blos weil er Sitte ist, — das heisst doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! — Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?
102.
Die ältesten moralischen Urtheile. — Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe? — Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr für uns herauskommt, — wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunct. Diese Wirkung nehmen wir als die Absicht der Handlung — und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als dauernde Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an» einen schädlichen Menschen«. Dreifache Irrung! Dreifacher uralter Fehlgriff! Vielleicht unsre Erbschaft von den Thieren und ihrer Urtheilskraft her! Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen:»was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich. «O pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige Relation eines Anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten, und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Princip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? —
103.
Es giebt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. — »Die Sittlichkeit leugnen«— das kann einmal heissen: leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, — es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heissen: leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise Irrthümer, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist mein Gesichtspunct: doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass in sehr vielen Fällen ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunctes, also im Geiste des La Rochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. — Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht — vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin — , dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, — aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, — um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: um zu fühlen.
104.
Unsere Werthschätzungen. — Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, — letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, — das heisst: wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären — und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, — etwas äusserst Seltenes! — Aber wenigstens muss doch unsre Werthschätzung des Anderen, in der das Motiv dafür liegt, dass wir uns in den meisten Fällen seiner Werthschätzung bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als Kinder machen wir sie, und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig finden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen.