564.
Gleich neben der Erfahrung! — Auch große Geister haben nur ihre fünf Finger breite Erfahrung, — gleich daneben hört ihr Nachdenken auf: und es beginnt ihr unendlicher leerer Raum und ihre Dummheit.
565.
Würde und Unwissenheit im Bunde. — Wo wir verstehen, da werden wir artig, glücklich, erfinderisch, und überall, wo wir nur genug gelernt und uns Augen und Ohren gemacht haben, zeigt unsere Seele mehr Geschmeidigkeit und Anmuth. Aber wir begreifen so Wenig und sind armselig unterrichtet, und so kommt es selten dazu, dass wir eine Sache umarmen und uns dabei selber liebenswerth machen: vielmehr gehen wir steif und unempfindlich durch die Stadt, die Natur, die Geschichte und bilden uns Etwas auf diese Haltung und Kälte ein, als ob sie eine Wirkung der Überlegenheit sei. Ja, unsere Unwissenheit und unser geringer Durst nach Wissen verstehen sich trefflich darauf, als Würde, als Charakter einherzustolzieren.
566.
Wohlfeil leben. — Die wohlfeilste und harmloseste Art zu leben ist die des Denkers: denn, um gleich das Wichtigste zu sagen, er bedarf gerade der Dinge am meisten, welche die Anderen geringschätzen und übriglassen — . Sodann: er freut sich leicht und kennt keine kostspieligen Zugänge zum Vergnügen; seine Arbeit ist nicht hart, sondern gleichsam südländisch; sein Tag und seine Nacht werden nicht durch Gewissensbisse verdorben; er bewegt sich, isst, trinkt und schläft nach dem Maasse, dass sein Geist immer ruhiger, kräftiger und heller werde; er freut sich seines Leibes und hat keinen Grund, ihn zu fürchten; er bedarf der Geselligkeit nicht, es sei denn von Zeit zu Zeit, um hinterher seine Einsamkeit um so zärtlicher zu umarmen; er hat an den Todten Ersatz für Lebende, und selbst für Freunde einen Ersatz: nämlich an den Besten, die je gelebt haben. — Man erwäge, ob nicht die umgekehrten Gelüste und Gewohnheiten es sind, welche das Leben der Menschen kostspielig, und folglich mühsam, und oft unausstehlich machen. — In einem anderen Sinne freilich ist das Leben des Denkers das kostspieligste, — es ist Nichts zu gut für ihn; und gerade des Besten zu entbehren wäre hier eine unerträgliche Entbehrung.
567.
Im Felde. — »Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.«— So sprechen brave Soldaten der Erkenntniss.
568.
Dichter und Vogel. — Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle.»Erschrick nicht! sagte er, es ist dein Werk! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist Derer, die gegen die Zeit sind: folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenröthen.»
569.
An die Einsamen. — Wenn wir die Ehre anderer Personen nicht in unseren Selbstgesprächen ebenso schonen, wie in der Öffentlichkeit, so sind wir unanständige Menschen.
570.
Verluste. — Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mittheilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter hohen schwarzen Cypressen schweigend ergeht.
571.
Feld-Apotheke der Seele. — Welches ist das stärkste Heilmittel? — Der Sieg.
572.
Das Leben soll uns beruhigen. — Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem grossen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen: so begehrt man vom Leben Beruhigung und Stille, — während Andere gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben.
573.
Sich häuten. — Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln; sie hören auf, Geist zu sein.
574.
Nicht zu vergessen! — je höher wir uns erheben, um so kleiner erscheinen wir Denen, welche nicht fliegen können.
575.
Wir Luft-Schifffahrer des Geistes! — Alle diese kühnen Vögel, die in's Weite, Weiteste hinausfliegen, — gewiss! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken — und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft! Aber wer dürfte daraus schliessen, dass es vor ihnen keine ungeheuere freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fliegen könne! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andere Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist! — Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn über das Meer? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hofften, — dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? —