553.
Auf Umwegen. — Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, südlichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der Philosophie, und nicht nur solche, welche düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, — vielleicht sind auch sie insgesammt nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe? — Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See's, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekümmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag. —
554.
Vorschritt. — Wenn man den Fortschritt rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, — und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ägyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt,»von selber versteht«— ach, wenn wir nur auch Etwas davon verstünden! — lobe ich mir den Vorschritt und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt.»Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wüste ist noch gross!«— so empfindet ein solcher Vorschreitender.
555.
Die geringsten genügen schon. — Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die geringsten sich schon stark genug auf uns einzeichnen, — und diesen entgeht man doch nicht. — Der Denker muss einen ungefähren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch erleben will.
556.
Die guten Vier. — Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmüthig gegen den Besiegten: höflich — immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.
557.
Auf einen Feind los. — Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschirt!
558.
Aber auch nicht seine Tugenden verbergen! — Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch» die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen. «Selbst für sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art: Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess möglich macht, für Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formel:»lasset eure Sünden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden!«Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, — es ist eine Sünde wider den Geschmack.
559.
«Nicht zu sehr!«— Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen kann und das über seine Kräfte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Kräfte bei der allerhöchsten Anspannung leisten können! Ist diess aber wirklich so wünschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas übertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch über die Welt, dass man immer kämpfende Athleten, ungeheure Gebärden und nirgends einen bekränzten und siegesgemuthen Sieger sieht?
560.
Was uns frei steht. — Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gärtners und gleichsam in französischer oder englischer oder holländischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da für ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich auch ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natürlichen Begünstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskämpfen lassen, — ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei: aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht? Glauben nicht die Meisten an sich wie an vollendete ausgewachsene Thatsachen? Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess Vorurtheil gedrückt, mit der Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters?
561.
Sein Glück auch leuchten lassen. — Wie die Maler, welche den tiefen, leuchtenden Ton des wirklichen Himmels auf keine Weise erreichen können, genöthigt sind, alle Farben, die sie zu ihrer Landschaft brauchen, um ein paar Töne niedriger zu nehmen, als die Natur sie zeigt: wie sie durch diesen Kunstgriff wieder eine Ähnlichkeit im Glanze und eine Harmonie der Töne erreichen, welche der in der Natur entspricht: so müssen sich auch Dichter und Philosophen zu helfen wissen, denen der leuchtende Glanz des Glückes unerreichbar ist; indem sie alle Dinge um einige Grade dunkler färben, als sie sind, wirkt ihr Licht, auf welches sie sich verstehen, beinahe sonnenhaft und dem Lichte des vollen Glücks ähnlich. — Der Pessimist, der die schwärzesten und düstersten Farben allen Dingen giebt, verbraucht nur Flammen und Blitze, himmlische Glorien und Alles, was grelle Leuchtkraft hat und die Augen unsicher macht; bei ihm ist die Helle nur dazu da, das Entsetzen zu vermehren und mehr Schreckliches in den Dingen ahnen zu lassen, als sie haben.
562.
Die Sesshaften und die Freien. — Erst in der Unterwelt zeigt man uns Etwas von dem düsteren Hintergrunde aller jener Abenteurer-Seligkeit, welche um Odysseus und Seinesgleichen wie ein ewiges Meeresleuchten liegt, — von jenem Hintergrunde, den man dann nicht mehr vergisst: die Mutter des Odysseus starb aus Gram und Verlangen nach ihrem Kinde! Den Einen treibt es von Ort zu Ort, und dem Andern, dem Sesshaften und Zärtlichen, bricht das Herz darüber: so ist es immer! Der Kummer bricht Denen das Herz, welche es erleben, dass gerade ihr Geliebtester ihre Meinung, ihren Glauben verlässt, — es gehört diess in die Tragödie, welche die freien Geister machen, — um die sie mitunter auch wissen! Dann müssen sie auch wohl einmal, wie Odysseus, zu den Todten steigen, um ihren Gram zu heben und ihre Zärtlichkeit zu beschwichtigen.
563.
Der Wahn der sittlichen Weltordnung. — Es giebt gar keine ewige Nothwendigkeit, welche forderte, dass jede Schuld gebüsst und bezahlt werde, — es war ein schrecklicher, zum kleinsten Theile nützlicher Wahn, dass es eine solche gebe — ; ebenso wie es ein Wahn ist, dass Alles eine Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht giebt, haben die Menschen so verstört!