380.
Erprobter Rath. — Von allen Trostmitteln thut Trostbedürftigen Nichts so wohl, als die Behauptung, für ihren Fall gebe es keinen Trost. Darin liegt eine solche Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erheben.
381.
Seine» Einzelheit «kennen. — Wir vergessen zu leicht, dass wir im Auge fremder Menschen, die uns zum ersten Male sehen, etwas ganz Anderes sind, als Das, wofür wir uns selber halten: meistens Nichts mehr, als eine in die Augen springende Einzelheit, welche den Eindruck bestimmt. So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, und ruhig sitzen, — die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem grossen Schnurrbart, will sagen: einen militärischen, leicht aufbrausenden, unter Umständen gewaltsamen Charakter — und benehmen sich darnach vor ihm.
382.
Gärtner und Garten. — Aus feuchten trüben Tagen, Einsamkeit, lieblosen Worten an uns, wachsen Schlüsse auf wie Pilze: sie sind eines Morgens da, wir wissen nicht woher, und sehen sich grau und griesgrämig nach uns um. Wehe dem Denker, der nicht der Gärtner, sondern nur der Boden seiner Gewächse ist!
383.
Die Komödie des Mitleidens. — Wir mögen noch so sehr an einem Unglücklichen Antheil nehmen: in seiner Gegenwart spielen wir immer etwas Komödie, wir sagen Vieles nicht, was wir denken und wie wir es denken, mit jener Behutsamkeit des Arztes am Bette von Schwerkranken.
384.
Wunderliche Heilige. — Es giebt Kleinmüthige, welche von ihrem besten Werke und Wirken Nichts halten und es schlecht zur Mittheilung oder zum Vortrage bringen: aber aus einer Art Rache halten sie auch Nichts von der Sympathie Anderer oder glauben gar nicht an Sympathie; sie schämen sich, von sich selber hingerissen zu erscheinen und fühlen ein trotziges Wohlbehagen darin, lächerlich zu werden. — Diess sind Zustände aus der Seele melancholischer Künstler.
385.
Die Eiteln. — Wir sind wie Schauläden, in denen wir selber unsere angeblichen Eigenschaften, welche Andere uns zusprechen, fortwährend anordnen, verdecken oder in's Licht stellen, — um uns zu betrügen.
386.
Die Pathetischen und die Naiven. — Es kann eine sehr unedle Gewohnheit sein, keine Gelegenheit vorbei zu lassen, wo man sich pathetisch zeigen kann: um jenes Genusses willen, sich den Zuschauer dabei zu denken, der sich an die Brust schlägt und sich selber jämmerlich und klein fühlt. Es kann folglich auch ein Zeichen des Edelsinns sein, mit pathetischen Lagen Spott zu treiben und in ihnen sich unwürdig zu benehmen. Der alte kriegerische Adel Frankreich's hatte diese Art Vornehmheit und Feinheit.
387.
Probe einer Überlegung vor der Ehe. — Gesetzt, sie liebte mich, wie lästig würde sie mir auf die Dauer werden! Und gesetzt, sie liebte mich nicht, wie lästig würde sie erst da mir auf die Dauer werden! — Es handelt sich nur um zwei verschiedene Arten des Lästigen: — heirathen wir also!
388.
Die Schurkerei mit gutem Gewissen. — Im kleinen Handel übervortheilt zu werden, — das ist in manchen Gegenden, zum Beispiel in Tyrol, so unangenehm, weil man das böse Gesicht und die grobe Begierde darin, nebst dem schlechten Gewissen und der plumpen Feindseligkeit, welche im betrügerischen Verkäufer gegen uns entsteht, noch obendrein in den schlechten Kauf bekommt. In Venedig dagegen ist der Prellende von Herzen über das gelungene Schelmenstück vergnügt und gar nicht feindselig gegen den Geprellten gestimmt, ja geneigt, ihm eine Artigkeit zu erweisen und namentlich mit ihm zu lachen, falls er dazu Lust haben sollte. — Kurz, man muss zur Schurkerei auch den Geist und das gute Gewissen haben: das versöhnt den Betrogenen beinahe mit dem Betruge.
389.
Etwas zu schwer. — Sehr brave Leute, die aber etwas zu schwer sind, um höflich und liebenswürdig zu sein, suchen eine Artigkeit sofort mit einer ernsthaften Dienstleistung oder mit einem Beitrag aus ihrer Kraft zu beantworten. Es ist rührend anzusehen, wie sie ihre Goldstücke schüchtern heranbringen, wenn ein Anderer ihnen seine vergoldeten Pfennige geboten hat.
390.
Geist verbergen. — Wenn wir Jemanden dabei ertappen, dass er seinen Geist vor uns verbirgt, so nennen wir ihn böse: und zwar um so mehr, wenn wir argwöhnen, dass Artigkeit und Menschenfreundlichkeit ihn dazu getrieben haben.
391.
Der böse Augenblick. — Lebhafte Naturen lügen nur einen Augenblick: nachher haben sie sich selber belogen und sind überzeugt und rechtschaffen.
392.
Bedingung der Höflichkeit. — Die Höflichkeit ist eine sehr gute Sache und wirklich eine der vier Haupttugenden (wenn auch die letzte): aber damit wir uns einander nicht mit ihr lästig werden, muss Der, mit dem ich gerade zu thun habe, um einen Grad weniger oder mehr höflich sein, als ich es bin, — sonst kommen wir nicht von der Stelle, und die Salbe salbt nicht nur, sondern klebt uns fest.
393.
Gefährliche Tugenden. — »Er vergisst Nichts, aber er vergiebt Alles.«— Dann wird er doppelt gehasst, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtniss und mit seiner Grossmuth.
394.
Ohne Eitelkeit. — Leidenschaftliche Menschen denken wenig an Das, was die Anderen denken, ihr Zustand erhebt sie über die Eitelkeit.
395.
Die Contemplation. — Bei dem einen Denker folgt der dem Denker eigene beschauliche Zustand immer auf den Zustand der Furcht, bei einem andern immer auf den Zustand der Begierde. Dem ersten scheint demnach die Beschaulichkeit mit dem Gefühl der Sicherheit verbunden, dem andern mit dem Gefühl der Sättigung — das heisst: jener ist dabei muthig, dieser überdrüssig und neutral gestimmt.
396.
Auf der Jagd. — Jener ist auf der Jagd, angenehme Wahrheiten zu haschen, dieser — unangenehme. Aber auch der Erstere hat mehr Vergnügen an der Jagd, als an der Beute.
397.
Erziehung. — Die Erziehung ist eine Fortsetzung der Zeugung und oft eine Art nachträglicher Beschönigung derselben.
398.
Woran der Hitzigere zu erkennen ist. — Von zwei Personen, die mit einander kämpfen oder sich lieben oder sich bewundern, übernimmt die, welche die hitzigere ist, immer die unbequemere Stellung. Das Selbe gilt auch von zwei Völkern.
399.
Sich vertheidigen. — Manche Menschen haben das beste Recht, so und so zu handeln; aber wenn sie sich darob vertheidigen, glaubt man's nicht mehr — und irrt sich.
400.
Moralische Verzärtelung. — Es giebt zart moralische Naturen, welche bei jedem Erfolge Beschämung und bei jedem Misserfolge Gewissensbisse haben.
401.
Gefährlichstes Verlernen. — Man fängt damit an, zu verlernen, Andere zu lieben und hört damit auf, an sich nichts Liebenswerthes mehr zu finden.
402.
Auch eine Toleranz. — »Eine Minute zu lange auf glühenden Kohlen gelegen haben und ein Wenig dabei anzubrennen, — das schadet noch Nichts, bei Menschen und Kastanien! Diese kleine Bitterkeit und Härte lässt erst recht schmecken, wie süss und milde der Kern ist.«— Ja! So urtheilt ihr Geniessenden! Ihr sublimen Menschenfresser!
403.
Verschiedener Stolz. — Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter möchte ihrer nicht werth sein; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht werth sein. Es ist hier von ganzen Frauen, ganzen Männern die Rede. Solche Männer, als die Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefühls für gewöhnlich, haben im Zustande der Passion ihre Verschämtheit, ihren Zweifel an sich; solche Frauen aber fühlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in der hohen Ausnahme der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefühl, — als welches frägt: wer ist meiner würdig?