361.
Hässlich scheinen. — Die Mässigkeit sieht sich selber als schön; sie ist unschuldig daran, dass sie im Auge des Unmässigen rauh und nüchtern, folglich als hässlich erscheint.
362.
Verschieden im Hasse. — Manche hassen erst, wenn sie sich schwach und müde fühlen: sonst sind sie billig und übersehend. Andre hassen erst, wenn sie die Möglichkeit der Rache sehen: sonst hüten sie sich vor allem heimlichen und lauten Zorn, und denken, wenn es Anlässe dazu giebt, daran vorbei.
363.
Menschen des Zufalls. — Das Wesentliche an jeder Erfindung thut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht.
364.
Wahl der Umgebung. — Man hüte sich, in einer Umgebung zu leben, vor der man weder würdig schweigen, noch sein Höheres mitzutheilen vermag, sodass unsere Klagen und Bedürfnisse und die ganze Geschichte unserer Nothstände zur Mittheilung übrig bleiben. Dabei wird man mit sich unzufrieden, und unzufrieden mit dieser Umgebung, ja, nimmt den Verdruss, sich immer als Klagenden zu empfinden, noch zu dem Nothstande hinzu, der uns klagen macht. Sondern dort soll man leben, wo man sich schämt, von sich zu reden, und es nicht nöthig hat. — Aber wer denkt an solche Dinge, an eine Wahl in solchen Dingen! Man redet von seinem» Verhängniss«, stellt sich mit breitem Rücken hin und seufzt» ich unglückseliger Atlas!»
365.
Eitelkeit. — Die Eitelkeit ist die Furcht, original zu erscheinen, also ein Mangel an Stolz, aber nicht nothwendig ein Mangel an Originalität.
366.
Verbrecher-Kummer. — Man leidet als entdeckter Verbrecher nicht am Verbrechen, sondern an der Schande oder am Verdruss über eine gemachte Dummheit oder an der Entbehrung des gewohnten Elementes, und es bedarf einer Feinheit, die selten ist, hierin zu unterscheiden. Jeder, der viel in Gefängnissen und Zuchthäusern verkehrt hat, ist erstaunt, wie selten daselbst ein unzweideutiger» Gewissensbiss «anzutreffen ist: um so mehr aber das Heimweh nach dem alten bösen geliebten Verbrechen.
367.
Immer glücklich seinen. — Als die Philosophie Sache des öffentlichen Wetteifers war, im Griechenland des dritten Jahrhunderts, gab es nicht wenige Philosophen, welche glücklich durch den Hintergedanken wurden, dass Andere, die nach anderen Principien lebten und sich dabei quälten, an ihrem Glücke Ärger haben müssten: sie glaubten, mit ihrem Glücke jene am besten zu widerlegen, und dazu genügte es ihnen, immer glücklich zu scheinen: aber dabei müssten sie auf die Dauer glücklich werden! Diess war zum Beispiel das Loos der Cyniker.
368.
Grund vieler Verkennung. — Die Moralität der zunehmenden Nervenkraft ist freudig und unruhig; die Moralität der abnehmenden Nervenkraft, am Abende oder bei Kranken und alten Leuten, ist leidend, beruhigend, abwartend, wehmüthig, ja nicht selten düster. Je nachdem man von dieser oder jener hat, versteht man die uns fehlende nicht, und dem Andern legt man sie oft als Unsittlichkeit und Schwäche aus.
369.
Sich über seine Erbärmlichkeit zu heben. — Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können: Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann! — sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit zu heben! — Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig.
370.
Inwiefern der Denker seinen Feind liebt. — Nie Etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, — aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit!
371.
Das Böse der Stärke. — Die Gewaltthätigkeit als Folge der Leidenschaft, zum Beispiel des Zornes, ist physiologisch als ein Versuch zu verstehen, einem drohenden Erstickungsanfall vorzubeugen. Zahllose Handlungen des Übermuths, der sich an anderen Personen auslässt, sind Ableitungen eines plötzlichen Blutandranges durch eine starke Muskel-Action gewesen: und vielleicht gehört das ganze» Böse der Stärke «unter diesen Gesichtspunct. (Das Böse der Stärke thut dem Andern wehe, ohne daran zu denken, — es muss sich auslassen; das Böse der Schwäche will wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen.)
372.
Zur Ehre der Kenner. — Sobald Einer, ohne Kenner zu sein, doch den Urtheiler Spielt, soll man sofort protestiren: ob es nun Männlein oder Weiblein sei. Schwärmerei und Entzücken für ein Ding oder einen Menschen sind keine Argumente: Widerwillen und Hass gegen sie auch nicht.
373.
Verrätherischer Tadel. — »Er kennt die Menschen nicht«— das heisst im Munde des Einen:»er kennt die Gemeinheit nicht«, im Munde des Andern:»er kennt die Ungewöhnlichkeit nicht und die Gemeinheit zu gut«.
374.
Werth des Opfers. — Je mehr man den Staaten und Fürsten das Recht aberkennt, die Einzelnen zu opfern (wie bei der Rechtspflege, der Heeresfolge u. s. w.), um so höher wird der Werth der Selbst-Opferung steigen.
375.
Zu deutlich reden. — Man kann aus verschiedenen Gründen zu deutlich articulirt sprechen: einmal, aus Misstrauen gegen sich, in einer neuen ungeübten Sprache, sodann aber auch aus Misstrauen gegen die Anderen, wegen ihrer Dummheit oder Langsamkeit des Verständnisses. Und so auch im Geistigsten: unsere Mittheilung ist mitunter zu deutlich, zu peinlich, weil Die, welchen wir uns mittheilen, uns sonst nicht verstehen. Folglich ist der vollkommne und leichte Stil nur vor einer vollkommenen Zuhörerschaft erlaubt.
376.
Viel schlafen. — Was thun, um sich anzuregen, wenn man müde und seiner selbst satt ist? Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Andere das Christenthum, der Dritte die Electricität. Das Beste aber, mein lieber Melancholiker, ist und bleibt: viel schlafen, eigentlich und uneigentlich! So wird man auch seinen Morgen wieder haben! Das Kunststück der Lebensweisheit ist, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben wissen.
377.
Worauf phantastische Ideale rathen lassen. — Dort, wo unsere Mängel liegen, ergeht sich unsere Schwärmerei. Den schwärmerischen Satz» liebet eure Feinde!«haben Juden erfinden müssen, die besten Hasser, die es gegeben hat, und die schönste Verherrlichung der Keuschheit ist von Solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend wüst und abscheulich gelebt haben.
378.
Reine Hand und reine Wand. — Man soll weder Gott noch den Teufel an die Wand malen. Man verdirbt damit seine Wand und seine Nachbarschaft.
379.
Wahrscheinlich und unwahrscheinlich. — Eine Frau liebte heimlich einen Mann, hob ihn hoch über sich und sagte sich im Geheimsten hundert Male:»wenn mich ein solcher Mann liebte, so wäre diess wie eine Gnade, vor der ich im Staube liegen müsste!«— Und dem Manne gieng es ganz ebenso, und gerade in Bezug auf diese Frau, und er sagte sich im Geheimsten auch gerade diesen Gedanken. Als endlich einmal Beiden die Zunge sich gelöst hatte und sie alles das Verschwiegene und Verschwiegenste des Herzens einander sagten, entstand schliesslich ein Stillschweigen und einige Besinnung. Darauf hob die Frau an, mit erkälteter Stimme:»aber es ist ja ganz klar! wir sind Beide nicht Das, was wir geliebt haben! Wenn du Das bist, was du sagst und nicht mehr, so habe ich mich umsonst erniedrigt und dich geliebt; der Dämon verführte mich so wie dich.«— Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, — wesshalb?