278.
Das verbindliche Gedächtniss. — Wer einen hohen Rang hat, thut gut, sich ein verbindliches Gedächtniss anzuschaffen, das heisst, sich von den Personen alles mögliche Gute zu merken und dahinter einen Strich zu machen: damit hält man sie in einer angenehmen Abhängigkeit. So kann der Mensch auch mit sich selber verfahren: ob er ein verbindliches Gedächtniss hat oder nicht, das entscheidet zuletzt über seine eigene Haltung zu sich selber, über die Vornehmheit, Güte oder das Misstrauen bei der Beobachtung seiner Neigungen und Absichten und zuletzt wieder über die Art der Neigungen und Absichten selber.
279.
Worin wir Künstler werden. — Wer Jemanden zu seinem Abgott macht, versucht, sich vor sich selber zu rechtfertigen, indem er ihn in's Ideal erhebt; er wird zum Künstler daran, um ein gutes Gewissen zu haben. Wenn er leidet, so leidet er nicht am Nicht wissen, sondern am Sich-belügen, als ob er nicht wüsste. — Die innere Noth und Lust eines solchen Menschen — und alle leidenschaftlich Liebenden gehören dazu — ist mit gewöhnlichen Eimern nicht auszuschöpfen.
280.
Kindlich. — Wer lebt, wie die Kinder — also nicht um sein Brod kämpft und nicht glaubt, dass seinen Handlungen eine endgültige Bedeutung zukomme — bleibt kindlich.
281.
Das Ich will Alles haben. — Es scheint, dass der Mensch überhaupt nur handelt, um zu besitzen: wenigstens legen die Sprachen diesen Gedanken nahe, welche alles vergangene Handeln so betrachten, als ob wir damit Etwas besässen (»ich habe gesprochen, gekämpft, gesiegt«: das ist, ich bin nun im Besitze meines Spruches, Kampfes, Sieges). Wie habsüchtig nimmt sich hierbei der Mensch aus! Selbst die Vergangenheit sich nicht entwinden lassen, gerade auch sie noch haben wollen!
282.
Gefahr in der Schönheit. — Diese Frau ist schön und klug: ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre!
283.
Hausfrieden und Seelenfrieden. — Unsere gewöhnliche Stimmung hängt von der Stimmung ab, in der wir unsere Umgebung zu erhalten wissen.
284.
Das Neue als alt vorbringen. — Viele erscheinen, gereizt, wenn man ihnen eine Neuigkeit erzählt, sie empfinden das Übergewicht, welches die Neuigkeit Dem giebt, der sie früher weiss.
285.
Wo hört das Ich auf? — Die Meisten nehmen eine Sache, die sie wissen, unter ihre Protection, wie als ob das Wissen sie schon zu ihrem Eigenthum mache. Die Aneignungslust des Ichgefühls hat keine Gränzen: die grossen Männer reden so, als ob die ganze Zeit hinter ihnen stünde und sie der Kopf dieses langen Leibes seien, und die guten Frauen rechnen sich die Schönheit ihrer Kinder, ihrer Kleider, ihres Hundes, ihres Arztes, ihrer Stadt zum Verdienste und wagen es nur nicht, zu sagen» das Alles bin ich«. Chi non ha, non sagt man in Italien.
286.
Haus- und Schoossthiere und Verwandtes. — Giebt es etwas Ekelhafteres, als die Sentimentalität gegen Pflanzen und Thiere, von Seiten eines Geschöpfes, das wie der wüthendste Feind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat und zuletzt bei seinen geschwächten und verstümmelten Opfern gar noch auf zärtliche Gefühle Anspruch erhebt! Vor dieser Art» Natur «geziemt dem Menschen vor Allem Ernst, wenn anders er ein denkender Mensch ist.
287.
Zwei Freunde. — Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der Eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der Andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte — und Beide haben sich dabei getäuscht! — denn Jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug.
288.
Komödie der Edlen. — Die, welchen die edle herzliche Vertraulichkeit nicht gelingt, versuchen es, ihre edle Natur durch Zurückhaltung und Strenge und eine gewisse Geringschätzung der Vertraulichkeit errathen zu lassen: wie als ob das starke Gefühl ihres Vertrauens Scham hätte, sich zu zeigen.
289.
Wo man Nichts gegen eine Tugend sagen darf. — Unter den Feiglingen ist es von schlechtem Tone, etwas gegen die Tapferkeit zu sagen, und erregt Verachtung; und rücksichtslose Menschen zeigen sich erbittert, wenn Etwas gegen das Mitleiden gesagt wird.
290.
Eine Vergeudung. — Bei erregbaren und plötzlichen Naturen sind die ersten Worte und Handlungen meisthin unbezeichnend für ihren eigentlichen Charakter (sie werden durch die Umstände eingegeben und sind gleichsam Nachahmungen vom Geiste der Umstände), aber weil sie einmal gesprochen und gethan sind, so müssen die später nachkommenden eigentlichen Charakterworte und Charakterhandlungen häufig im Ausgleichen oder im Wieder-gut- oder — vergessen-Machen daraufgehen.
291.
Anmaassung. — Anmaassung ist ein gespielter und erheuchelter Stolz; dem Stolze aber ist gerade eigenthümlich, dass er kein Spiel, keine Verstellung und Heuchelei kann und mag, — insofern ist die Anmaassung die Heuchelei der Unfähigkeit zur Heuchelei, etwas sehr Schweres und meist Misslingendes. Gesetzt aber, dass er sich, wie gewöhnlich geschieht, dabei verräth, so erwartet den Anmaassenden eine dreifache Unannehmlichkeit: man zürnt ihm, weil er uns betrügen will, und zürnt ihm, weil er sich über uns hat erhaben zeigen wollen, — und zuletzt lacht man noch über ihn, weil ihm Beides missrathen ist. Wie sehr ist also von der Anmaassung abzurathen!
292.
Eine Art Verkennung. — Wenn wir Jemanden sprechen hören, so genügt oft der Klang eines einzigen Consonanten (zum Beispiel eines r), um uns einen Zweifel über die Ehrlichkeit seiner Empfindung einzuflössen: wir sind diesen Klang nicht gewöhnt und würden ihn machen müssen, mit Willkür, — er klingt uns» gemacht«. Hier ist ein Gebiet der gröbsten Verkennung: und das Selbe gilt vom Stile eines Schriftstellers, der Gewohnheiten hat, welche nicht aller Welt Gewohnheiten sind. Seine» Natürlichkeit «wird nur von ihm als solche empfunden, und gerade mit dem, was er selber als» gemacht «fühlt, weil er damit einmal der Mode und dem sogenannten» guten Geschmacke «nachgegeben hat, gefällt er vielleicht und erregt Zutrauen.
293.
Dankbar. — Ein Gran dankbaren Sinnes und Pietät zu viel: — und man leidet daran wie an einem Laster und geräth mit seiner ganzen Selbständigkeit und Redlichkeit unter das böse Gewissen.
294.
Heilige. — Die sinnlichsten Männer sind es, welche vor den Frauen fliehn und den Leib martern müssen.
295.
Feinheit des Dienens. — Innerhalb der grossen Kunst des Dienens gehört es zu den feinsten Aufgaben, einem unbändig Ehrgeizigen zu dienen, der zwar der stärkste Egoist in Allem ist, aber durchaus nicht dafür gelten will (es ist diess gerade ein Stück seines Ehrgeizes), dem Alles nach Willen und Laune geschehen muss und doch immer so, dass es den Anschein hat, als ob er sich aufopferte und selten für sich selber Etwas wollte.
296.
Das Duell. — Ich erachte es als einen Vortheil, sagte Jemand, ein Duell haben zu können, wenn ich durchaus eines nöthig habe; denn es giebt allezeit brave Kameraden um mich. Das Duell ist der letzte übrig gebliebene, völlig ehrenvolle Weg zum Selbstmord, leider ein Umschweif, und nicht einmal ein ganz sicherer.
297.
Verderblich. — Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden.