222.
Wo Fanatismus zu wünschen ist. — Phlegmatische Naturen sind nur so zu begeistern, dass man sie fanatisirt.
223.
Das gefürchtete Auge. — Nichts wird von Künstlern, Dichtern und Schriftstellern mehr gefürchtet, als jenes Auge, welches ihren kleinen Betrug sieht, welches nachträglich wahrnimmt, wie oft sie an dem Gränzwege gestanden haben, wo es entweder zur unschuldigen Lust an sich selber oder zum Effect-machen abführte; welches ihnen nachrechnet, wenn sie Wenig für Viel verkaufen wollten, wenn sie zu erheben und zu schmücken suchten, ohne selber erhoben zu sein; welches den Gedanken durch allen Trug ihrer Kunst hindurch so sieht, wie er zuerst vor ihnen stand, vielleicht wie eine entzückende Lichtgestalt, vielleicht aber auch als ein Diebstahl an aller Welt, als ein Alltags-Gedanke, den sie dehnen, kürzen, färben, einwickeln, würzen mussten, um Etwas aus ihm zu machen, anstatt dass der Gedanke Etwas aus ihnen machte, — oh dieses Auge, welches alle eure Unruhe, euer Spähen und Gieren, euer Nachmachen und überbieten (diess ist nur ein neidisches Nachmachen) eurem Werke anmerkt, welches eure Schamröthe so gut kennt, wie eure Kunst, diese Röthe zu verbergen und vor euch selber umzudeuten!
224.
Das Erhebende «am Unglück des Nächsten. — Er ist im Unglück, und nun kommen die» Mitleidigen «und malen ihm sein Unglück aus, — endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort: sie haben sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eigenen Entsetzen geweidet und sich einen guten Nachmittag gemacht.
225.
Mittel, um schnell verachtet zu werden. — Ein Mensch, der schnell und viel spricht, sinkt ausserordentlich tief in unserer Achtung, nach dem kürzesten Verkehre, und selbst wenn er verständig spricht, — nicht nur in dem Maasse als er lästig fällt, sondern weit tiefer. Denn wir errathen, wie vielen Menschen er schon lästig gefallen ist, und rechnen zu dem Missbehagen, das er macht, noch die Missachtung hinzu, welche wir für ihn voraussetzen.
226.
Vom Verkehre mit Celebritäten. — A: Aber warum weichst du diesem grossen Manne aus? — B: Ich möchte ihn nicht verkennen lernen! Unsere Fehler vertragen sich nicht bei einander: ich bin kurzsichtig und misstrauisch, und er trägt seine falschen Diamanten so gern wie seine ächten.
227.
Kettenträger. — Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen! Zum Beispiel vor den klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat und die darin alt werden. Zwar liegen sie scheinbar träge und halb blind in der Sonne da: aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermutheten fahren sie auf, um zu beissen; sie nehmen an Allem Rache, was ihrer Hundehütte entkommen ist.
228.
Rache im Lobe. — Hier ist eine geschriebene Seite voller Lob, und ihr nennt sie flach: aber wenn ihr errathet, dass Rache in diesem Lobe verborgen liegt, so werdet ihr sie fast überfein finden und an dem Reichthum kleiner kühner Striche und Figuren euch sehr ergötzen. Nicht der Mensch, sondern seine Rache ist so fein, reich und erfinderisch; er selber merkt kaum Etwas davon.
229.
Stolz. — Ach, ihr kennt alle das Gefühl nicht, welches der Gefolterte nach der Folterung hat, wenn er in die Zelle zurückgebracht wird und sein Geheimniss mit ihm! — er hält es immer noch mit den Zähnen fest. Was wisst ihr vom Jubel des menschlichen Stolzes!
230.
«Utilitarisch«— jetzt gehen die Empfindungen in moralischen Dingen so kreuz und quer, dass man für diesen Menschen eine Moral durch ihre Nützlichkeit beweist, für jenen gerade durch die Nützlichkeit widerlegt.
231.
Von der deutschen Tugend. — Wie entartet in seinem Geschmack, wie sclavisch vor Würden, Ständen, Trachten, Pomp und Prunk muss ein Volk gewesen sein, als es das Schlichte als das Schlechte, den schlichten Mann als den schlechten Mann abschätzte! Man soll dem moralischen Hochmuthe der Deutschen immer diess Wörtlein» schlecht «und Nichts weiter entgegenhalten!
232.
Aus einer Disputation. — A: Freund, Sie haben sich heiser gesprochen! — B: So bin ich widerlegt. Reden wir nicht weiter davon.
233.
Die» Gewissenhaften«. — Habt ihr Acht gegeben, was für Menschen am meisten Werth auf strengste Gewissenhaftigkeit legen? Die, welche sich vieler erbärmlicher Empfindungen bewusst sind, ängstlich von sich und an sich denken und Angst vor Anderen haben, die ihr Inneres so sehr wie möglich verbergen wollen, — sie suchen sich selber zu imponiren, durch jene Strenge der Gewissenhaftigkeit und Härte der Pflicht, vermöge des strengen und harten Eindrucks, den Andere von ihnen dadurch bekommen müssen (namentlich Untergebene).
234.
Scheu vor dem Ruhme. — A: Dass Einer seinem Ruhme ausweicht, dass Einer seinen Lobredner absichtlich beleidigt, dass Einer sich scheut, Urtheile über sich zu hören, aus Scheu vor dem Lobe, — das findet man, das giebt es, — glaubt oder glaubt es nicht! — B: Das findet sich, das giebt sich! Nur etwas Geduld, Junker Hochmuth! —
235.
Dank abweisen. — Man darf wohl eine Bitte abweisen, aber nimmermehr darf man einen Dank abweisen (oder, was das Selbe ist, ihn kalt und conventionell annehmen). Diess beleidigt tief — und warum?
236.
Strafe. — Ein seltsames Ding, unsere Strafe! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein Abbüssen: im Gegentheil, sie beschmutzt mehr, als das Verbrechen selber.
237.
Eine Parteinoth. — Es giebt eine lächerliche, aber nicht ungefährliche Betrübniss fast in jeder Partei: an ihr leiden alle Die, welche die jahrelangen, treuen und ehrenwerthen Verfechter der Parteimeinung waren und plötzlich, eines Tages, merken, dass ein viel Mächtigerer die Trompete in die Hand genommen hat. Wie wollen sie es ertragen, stumm gemacht zu sein! Und so werden sie laut und mitunter in neuen Tönen.
238.
Das Streben nach Anmuth. — Wenn eine starke Natur nicht den Hang der Grausamkeit hat und nicht immer von sich selber occupirt ist, so strebt sie unwillkürlich nach Anmuth, — diess ist ihr Abzeichen. Die schwachen Charaktere dagegen lieben die herben Urtheile, — sie gesellen sich zu den Helden der Menschenverachtung, zu den religiösen oder philosophischen Anschwärzern des Daseins oder ziehen sich hinter strenge Sitten und peinliche» Lebensberufe «zurück: so suchen sie sich einen Charakter und eine Art Stärke zu schaffen. Und diess thun sie ebenfalls unwillkürlich.
239.
Wink für Moralisten. — Unsere Musiker haben eine grosse Entdeckung gemacht: die interessante Hässlichkeit ist auch in ihrer Kunst möglich! Und so werfen sie sich in diesen eröffneten Ozean des Hässlichen, wie trunken, und noch niemals war es so leicht, Musik zu machen. Jetzt hat man erst den allgemeinen dunkelfarbigen Hintergrund gewonnen, auf dem ein noch so kleiner Lichtstreifen schöner Musik den Glanz von Gold und Smaragd erhält; jetzt wagt man erst den Zuhörer in Sturm, Empörung und ausser Athem zu bringen, um ihm nachher durch einen Augenblick des Hinsinkens in Ruhe ein Gefühl der Seligkeit zu geben, welches der Schätzung der Musik überhaupt zu Gute kommt. Man hat den Contrast entdeckt: jetzt erst sind die stärksten Effecte möglich — und wohlfeil: Niemand fragt mehr nach guter Musik. Aber ihr müsst euch beeilen! Es ist für jede Kunst nur eine kurze Spanne Zeit noch, wenn sie erst zu dieser Entdeckung gelangt ist. — Oh, wenn unsere Denker Ohren hätten, um in die Seelen unserer Musiker, vermittelst ihrer Musik, hineinzuhören! Wie lange muss man warten, ehe solch eine Gelegenheit sich wiederfindet, den innerlichen Menschen auf der bösen That und in der Unschuld dieser That zu ertappen! Denn unsere Musiker haben nicht den leisesten Geruch davon, dass sie ihre eigene Geschichte, die Geschichte der Verhässlichung der Seele, in Musik setzen. Ehemals musste der gute Musiker beinahe um seiner Kunst willen ein guter Mensch werden — . Und jetzt!