212.
Worin man sich kennt. — Sobald ein Thier ein anderes sieht, so misst es sich im Geiste mit ihm; und ebenso machen es die Menschen wilder Zeitalter. Daraus ergiebt sich, dass sich da jeder Mensch fast nur in Hinsicht auf seine Wehr- und Angriffskräfte kennen lernt.
213.
Die Menschen des verfehlten Lebens. — Die Einen sind aus solchem Stoffe, dass es der Gesellschaft erlaubt ist, Diess oder Jenes aus ihnen zu machen: unter allen Umständen werden sie sich gut dabei befinden und nicht über ein verfehltes Leben zu klagen haben. Andere sind von zu besonderem Stoffe — es braucht desshalb noch kein besonders edler, sondern eben nur ein seltnerer zu sein — , als dass sie nicht sich schlecht befinden müssten, den einzigen Fall ausgenommen, dass sie ihrem einzigen Zwecke gemäss leben können: — in allen anderen Fällen hat die Gesellschaft den Schaden davon. Denn Alles, was dem Einzelnen als verfehltes, missrathenes Leben erscheint, seine ganze Bürde von Missmuth, Lähmung, Erkrankung, Reizbarkeit, Begehrlichkeit, wirft er auf die Gesellschaft zurück — und so bildet sich um sie eine schlechte dumpfe Luft und, im günstigsten Falle, eine Gewitterwolke.
214.
Was Nachsicht! — Ihr leidet, und verlangt, dass wir nachsichtig gegen euch sind, wenn ihr im Leiden den Dingen und Menschen Unrecht thut! Aber was liegt an unserer Nachsicht! Ihr aber solltet vorsichtiger um euer selbst willen sein! Das ist eine schöne Art, sich für sein Leiden so zu entschädigen, dass man noch dazu sein Urtheil schädigt! Auf euch selber fällt eure eigne Rache zurück, wenn ihr Etwas verunglimpft; ihr trübt damit euer Auge, nicht das der Anderen: ihr gewöhnt euch an das Falsch — und Schief-Sehen!
215.
Moral der Opferthiere. — »Sich begeistert hingeben«,»sich selber zum Opfer bringen«— diess sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, dass ihr, wie ihr sagt,»es damit ehrlich meint«: nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure» Ehrlichkeit «mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiss! — ihr seid ehrlich gegen euch, wenn sie euch missfällt, — sie muss euch missfallen! Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, geniesst ihr jenen Rausch des Gedankens, nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht: ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht, die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit scheint ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und geniesst euch als solche. Von diesem Genusse aus gerechnet, — wie schwach und arm dünkt euch jene» egoistische «Moral des Gehorsams, der Pflicht, der Vernünftigkeit: sie missfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden muss, ohne dass der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, ihr wollt den Rausch und das Übermaass, und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf gegen Rausch und Übermaass, — ich glaube euch wohl, dass sie euch Missbehagen macht!
216.
Die Bösen und die Musik. — Sollte die volle Seligkeit der Liebe, welche im unbedingten Vertrauen liegt, jemals anderen Personen zu Theil geworden sein, als tief misstrauischen, bösen und galligen? Diese nämlich geniessen in ihr die ungeheure, nie geglaubte und glaubliche Ausnahme ihrer Seele! Eines Tages kommt jene gränzenlose, traumhafte Empfindung über sie, gegen die sich ihr ganzes, übriges heimliches und sichtbares Leben abhebt: wie ein köstliches Räthsel und Wunder, voll goldenen Glanzes und über alle Worte und Bilder hinaus. Das unbedingte Vertrauen macht stumm; ja, selbst ein Leiden und eine Schwere ist in diesem seligen Stumm-werden, wesshalb auch solche vom Glück gedrückte Seelen der Musik dankbarer zu sein pflegen, als alle anderen und besseren: denn durch die Musik hindurch sehen und hören sie, wie durch einen farbigen Rauch, ihre Liebe gleichsam ferner, rührender und weniger schwer geworden; Musik ist ihnen das einzige Mittel, ihrem ausserordentlichen Zustande zuzuschauen und mit einer Art von Entfremdung und Erleichterung erst seines Anblicks theilhaft zu werden. Jeder Liebende denkt bei der Musik:»Sie redet von mir, sie redet an meiner Statt, sie weiss Alles!«—
217.
Der Künstler. — Die Deutschen wollen durch den Künstler in eine Art erträumter Passion kommen; die Italiäner wollen durch ihn von ihren wirklichen Passionen ausruhen; die Franzosen wollen von ihm Gelegenheit, ihr Urtheil zu beweisen, und Anlässe zum Reden haben. Also seien wir billig!
218.
Mit seinen Schwächen als Künstler schalten. — Wenn wir durchaus Schwächen haben sollen und sie als Gesetze über uns endlich auch anerkennen müssen, so wünsche ich Jedem wenigstens so viel künstlerische Kraft, dass er aus seinen Schwächen die Folie seiner Tugenden und durch seine Schwächen uns begehrlich nach seinen Tugenden zu machen verstehe: Das, was in so ausgezeichnetem Maasse die grossen Musiker verstanden haben. Wie häufig ist in Beethoven's Musik ein grober rechthaberischer, ungeduldiger Ton, bei Mozart eine Jovialität biederer Gesellen, bei der Herz und Geist ein Wenig fürlieb nehmen müssen, bei Richard Wagner eine abspringende und zudringende Unruhe, bei der dem Geduldigsten die gute Laune eben abhanden kommen will: da aber kehrt er zu seiner Kraft zurück, und ebenso Jene; sie Alle haben uns mit ihren Schwächen einen Heisshunger nach ihren Tugenden und eine zehnmal empfindlichere Zunge für jeden Tropfen tönenden Geistes, tönender Schönheit, tönender Güte gemacht.
219.
Der Betrug bei der Demüthigung. — Du hast deinem Nächsten mit deiner Unvernunft ein tiefes Leid zugefügt und ein unwiederbringliches Glück zerstört — und nun gewinnst du es über deine Eitelkeit, zu ihm zu gehen, du demüthigst dich vor ihm, giebst deine Unvernunft vor ihm der Verachtung preis und meinst, nach dieser harten, für dich äusserst beschwerlichen Scene sei im Grunde alles wieder in Ordnung gebracht, — deine freiwillige Einbusse an Ehre gleiche die unfreiwillige Einbusse des Andern an Glück aus: mit diesem Gefühle gehst du erhoben und in deiner Tugend wiederhergestellt davon. Aber der Andere hat sein tiefes Leid wie vorher, es liegt ihm gar nichts Tröstliches darin, dass du unvernünftig bist und es gesagt hast, er erinnert sich sogar des peinlichen Anblicks, den du ihm gegeben hast, als du dich vor ihm selbst verachtetest, wie einer neuen Wunde, welche er dir verdankt, — aber er denkt nicht an Rache und begreift nicht, wie zwischen dir und ihm Etwas ausgeglichen werden könnte. Im Grunde hast du jene Scene vor dir selber aufgeführt und für dich selber: du hattest einen Zeugen dazu eingeladen, deinetwegen wiederum und nicht seinetwegen, — betrüge dich nicht!
220.
Würde und Furchtsamkeit. — Die Ceremonien, die Amts- und Standestrachten, die ernsten Mienen, das feierliche Dreinschauen, die langsame Gangart, die gewundene Rede und Alles überhaupt, was Würde heisst: das ist die Verstellungsform Derer, welche im Grunde furchtsam sind, — sie wollen damit fürchten machen (sich oder Das, was sie repräsentiren). Die Furchtlosen, das heisst ursprünglich: die jederzeit und unzweifelhaft Fürchterlichen haben Würde und Ceremonien nicht nöthig, sie bringen die Ehrlichkeit, das Geradezu in Worten und Gebärden in Ruf und noch mehr in Verruf, als Anzeichen der selbstbewussten Fürchterlichkeit.
221.
Moralität des Opfers. — Die Moralität, welche sich nach der Aufopferung bemisst, ist die der halbwilden Stufe. Die Vernunft hat da nur einen schwierigen und blutigen Sieg innerhalb der Seele, es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen; ohne eine Art Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kanibalische Götter verlangen, geht es dabei nicht ab.