168.
Ein Vorbild. — Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil: er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was nicht typisch wäre! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene Cultur der unbefangensten Weltkenntniss zu einem letzten herrlichen Ausblühen, welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte: jene Cultur, welche auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt, — denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudröseln: so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg!
169.
Das Griechische uns sehr fremd. — Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch: im Verhältniss zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der grossen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen griechischen Architektur so erstaunt darüber wird, mit wie kleinen Massen die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen lieben. — Ebenfalls: wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber in ihrer Vorstellung! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntniss! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus! Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) — so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik lässt es schon errathen! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei Niemand da, der sie selber unter ihrer Musik zu sehen vermöge.)
170.
Andere Perspective des Gefühles. — Was ist unser Geschwätz von den Griechen! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele — die Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit ist! — Erst von da aus empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspective, als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe: sie verehrten anders, sie verachteten anders.
171.
Die Ernährung des modernen Menschen. — Er versteht Vieles, ja fast Alles zu verdauen, — es ist seine Art Ehrgeiz: aber er würde höherer Ordnung sein, wenn er diess gerade nicht verstünde; homo pamphagus ist nicht die feinste Species. Wir leben zwischen einer Vergangenheit, die einen verrückteren und eigensinnigeren Geschmack hatte, als wir, und einer Zukunft, die vielleicht einen gewählteren haben wird, — wir leben zu sehr in der Mitte.
172.
Tragödie und Musik. — Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüths, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Aschylus, sind schwer zu rühren, und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer» dämonischen Gewalt«, — sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand; so lange sie in ihm sind, geniessen sie das Entzücken des Ausser-sichseins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermuth des Leidens: es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüsses, das Einem nicht leicht zu Theil wird. — An Seelen, die so das Mitleiden empfinden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit erweicht zu werden: aber was soll die Tragödie Denen, welche den» sympathischen Affectionen «offen stehen wie die Segel den Winden! Als die Athener weicher und empfindsamer geworden waren, zur Zeit Plato's, — ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Gross- und Kleinstädter! — aber doch klagten schon die Philosophen über die Schädlichkeit der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen noth thun: einstweilen aber waren diese ein Wenig überflüssig, — um das mildeste Wort zu gebrauchen. — So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal das bessere Zeitalter (gewiss wird es das bösere sein!), dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche, in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben: aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach Allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters?
173.
Die Lobredner der Arbeit. — Bei der Verherrlichung der» Arbeit«, bei dem unermüdlichen Reden vom» Segen der Arbeit «sehe ich den selben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen: den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit — man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät — , dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie jeden im Zaume hält und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht ausserordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen, sie stellt ein kleines Ziel immer in's Auge und gewährt leichte und regelmässige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben: und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an. — Und nun! Entsetzen! Gerade der» Arbeiter «ist gefährlich geworden! Es wimmelt von» gefährlichen Individuen«! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren — das individuum!
174.
Moralische Mode einer handeltreibenden Gesellschaft. — Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode:»moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für Andere «sehe ich einen socialen Trieb der Furchtsamkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt: dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben alle Gefährlichkeit genommen werde, welche es früher hatte und dass daran Jeder und mit allen Kräften helfen solle: desshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat» gut «bekommen! — Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Nothstand, für jedes Leiden anderwärts Luchs-Augen zu haben! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu Sand zu machen? Sand! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affectionen? — Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen mehr nützt, indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und hilft — was doch nur sehr oberflächlich geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen übergreifen und Umbilden wird — oder indem man aus sich selber Etwas formt, was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat.