163.
Gegen Rousseau. — Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen» diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralität «oder gegen Rousseau zurückzuschliessen» unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmännlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und böse und die ungeheuere Überherrschaft derselben über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer starken Civilisation, zerbrochen: wo man der schlechten Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler. «So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein: und ist sie überhaupt auf einer von beiden? Man prüfe.
164.
Vielleicht verfrüht. — Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein Recht zu schaffen: während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen billig und gut finden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt: schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfinderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden; es soll eine ungeheuere Last von schlechtem Gewissen aus der Welt geschafft werden, — diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden!
165.
Welche Moral nicht langweilt. — Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lässt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mässigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden, — denn man hatte sie so nöthig und doch gerade für sie so wenig Talent!
166.
Am Scheidewege. — Pfui! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Räder geräth! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das ist, wozu er von Oben her gemacht wird! Wo das Suchen nach» Connexion «zu den natürlichen Pflichten gehört! wo Keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird» er kann Ihnen einmal nützen«; wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten! wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine geflissentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen; gleich als ob man sagte:»an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben: nehmt mich hin! Ohne Umstände!«—
167.
Die unbedingten Huldigungen. — Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke, so muss ich mir eingestehen: es wird den Deutschen, diesem Volke der unbedingten Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen grossen Männern. Es giebt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen: jedesmal einen Strom, in seinem eigenen, selbstgegrabenen Strombette, und so mächtig bewegt, dass es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge: wer möchte nicht gern anderer Meinung sein, als Schopenhauer, im Ganzen und Grossen! — Und wer könnte jetzt Einer Meinung mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen? so wahr es auch sein mag, was Jemand gesagt hat, dass. überall, wo er Anstoss nimmt und wo er Anstoss giebt, ein Problem vergraben liegt, — genug, er selber bringt es nicht an das Licht. — Und endlich, wie Viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck Einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich Einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein! Zwar: ohne Grundsätze, aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben desshalb ohne Grundsätze, — das sollte an einem Staatsmanne nichts Auffälliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemässe gelten; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch! ebenso wenig, als Lärm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Musiker, ebenso wenig, als die neue und ausserordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte: nämlich weder über den Dingen, noch auf den Knieen vor den Dingen — beides hätte noch deutsch heissen können — , sondern gegen die Dinge! Unglaublich! Und unangenehm! Sich in Eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guterletzt gar als der Gegner seiner selber! — was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die unter einander selber nicht Frieden halten wollen! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner's, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck's, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei! Was bleibt da zu thun! Wohin sich mit seinem Durste nach der» Huldigung in Bausch und Bogen «flüchten! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Tacte guter Musik auslesen, die sich Einem an's Herz legen und denen man sich gern an's Herz legt, weil sie ein Herz haben, — könnte man mit diesem kleinen Raub bei Seite gehen und den ganzen Rest vergessen? Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfindig machen, — auslesen, sich an's Herz legen und namentlich den Rest vergessen? Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber Etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes: als er aber das Vergessen nöthig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern musste dreimal die Geister beschwören; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie:»nur diess gerade steht nicht in unserer Macht!«Sollten die Deutschen sich die Erfahrung Manfred's nicht zu Nutze machen? Warum erst noch die Geister beschwören! Es ist unnütz, man vergisst nicht, wenn man vergessen will. Und wie gross wäre» der Rest«, den man hier, von diesen drei Grössen der Zeit, vergessen müsste, um fürderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu können! Da ist es doch räthlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen: nämlich in der Redlichkeit gegen sich selber zuzunehmen und aus einem Volke des gläubigen Nachsprechens und der bitterbösen blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft zu werden; zunächst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lächerliches sind, dass hierin Umlernen auch für Deutsche nicht unrühmlich ist, und dass es einen tiefen, beherzigenswerthen Spruch giebt:»Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses. «Dieser Spruch ist wie Der, welcher ihn sprach, gross, brav, einfach und schweigsam, — ganz wie Carnot, der Soldat und der Republicaner. — Aber darf man jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republicaner? Vielleicht nicht; ja, vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seiner Zeit den Deutschen sagen durfte: Niemand habe ihm so sehr den Eindruck der wahren Grösse gegeben, als Carnot.