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213.

Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist: man muss es» wissen«, aus Erfahrung, — oder man soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den philosophischen Zuständen: — die Wenigsten kennen sie, dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, un glaubwürdig. Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug als» des Schweisses der Edlen werth«— aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes!» Denken «und eine Sache» ernst nehmen«,»schwer nehmen«— das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es» erlebt«—. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben.- sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr» willkürlich «und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, — kurz, dass Nothwendigkeit und» Freiheit des Willens «dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe und gleichsam an diesen» Hof der Höfe «drängen! Aber auf solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen und zerstossen! Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie — das Wort im grossen Sinne genommen — hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das» Geblüt «entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt….

Siebentes Hauptstück:

Unsere Tugenden

214.

Unsere Tugenden? — Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, — mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, — wir werden vermuthlich, wenn wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen! — woselbst sich, wie man weiss, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber» an seine Tugend glauben«— ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein» gutes Gewissen «nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren Zopf. — Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon — anders kommt!. . .

215.

Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres» Sternenhimmels«— durch verschiedene Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, — und es giebt genug Fälle, wo wir bunte Handlungen thun.

216.

Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere — wir lernen verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben: — aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde — geht uns heute wider den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.

217.

Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, — sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre» Freunde «bleiben. — Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten» fertig».

218.

Die Psychologen Frankreichs — und wo giebt es heute sonst noch Psychologen? — haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung — denn es wird langweilig — , ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken — sogar auch als der Verstand seiner Opfer — : zum abermaligen Beweise dafür, dass der» Instinkt «unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der» Regel «im Kampfe mit der» Ausnahme«: da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch heutlicher: treibt Vivisektion am» guten Menschen«, am» homo bonae voluntatis an euch!

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