158.
Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen.
159.
Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?
160.
Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt.
161.
Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.
162.
«Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar«— so denkt jedes Volk.
163.
Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines Liebenden an's Licht, — sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist.
164.
Jesus sagte zu seinen Juden:»das Gesetz war für Knechte, — liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!»—
165.
Angesichts jeder Partei. — Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig, — oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein.
166.
Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch noch die Wahrheit.
167.
Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham — und etwas Kostbares.
168.
Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: — er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster.
169.
Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen.
170.
Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel.
171.
Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Cyklopen.
172.
Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht Alle umarmen kann): aber gerade Das darf man dem Beliebigen nicht verrathen…..
173.
Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher schätzt.
174.
Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk eurer Neigungen, — auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich?
175.
Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.
176.
Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie wider unsre Eitelkeit geht.
177.
Ober Das, was» Wahrhaftigkeit «ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig genug.
178.
Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an Menschenrechten!
179.
Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen» gebessert «haben.
180.
Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist.
181.
Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird.
182.
Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. —
183.
«Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert.»—
184.
Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.
185.
«Er missfällt mir.«— Warum? — »Ich bin ihm nicht gewachsen.«— Hat je ein Mensch so geantwortet?
Fünftes Hauptstück:
Zur Naturgeschichte der Moral
186.
Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige» Wissenschaft der Moral «noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: — ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort» Wissenschaft der Moral «ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, — und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, — als Vorbereitung zu einer Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten: sie wollten die Begründung der Moral, — und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst aber galt als» gegeben«. Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und Erdstriches, — gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte: — als welche alle erst bei einer Vergleichung vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen» Wissenschaft der Moral «fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen» Begründung der Moral «nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: — und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer» Wissenschaft«, deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden: —»das Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva — das ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen…. das eigentliche Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.«— Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein — bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt — ; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist — , der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich — die Flöte blies…. Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner, der vor der Moral Haltmacht, — der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich — ein Pessimist?