203.
Wir, die wir eines andren Glaubens sind — , wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen? — Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und» ewige Werthe «umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher» Geschichte «hiess, ein Ende zu machen — der Unsinn der» grössten Zahl «ist nur seine letzte Form — : dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor unsern Augen schwebt: — darf ich es laut sagen, ihr freien Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen, theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die Nothwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen und entarten könnten — das sind unsre eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete: wer aber das seltene Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass» der Mensch «selbst entartet, wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte — ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein» Finger Gottes «mitspielte! — wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der» modernen Ideen«, noch mehr in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen lässt, — er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat: — er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr» Mensch der Zukunft «erscheint, — als ihr Ideal! — diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der» freien Gesellschaft«), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, — und vielleicht auch eine neue Aufgabe!….
Sechstes Hauptstück:
Wir Gelehrten
204.
Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das herausstellt, was es immer war — nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac — , möchte ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner Erfahrung aus — Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung? — ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden (»ach, diese schlimme Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer dahinter!«—). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, — womit noch nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. Los von allen Herren!«— so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren» Magd «sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den» Herrn«— was sage ich! den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtniss — das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! — strotzt von Naivetäten des Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind —). Bald war es der Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und einen verschwenderischen Aufwand, der Niemandem» zu Gute kommt«. Bald sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: — mit dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's auf das neueste Deutschland zu sein: — er hat es mit seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind — in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann — ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich Wirklichkeits-Philosophen «oder» Positivisten «nennen, welcher ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen Gelehrten zu werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! — das sind ja allesammt überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben, ohne ein Recht zu diesem» mehr «und seiner Verantwortlichkeit zu haben — und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. Philosophie auf» Erkenntnisstheorie «reduzirt, thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich peinlich das Recht zum Eintritt verweigert — das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht. Wie könnte eine solche Philosophie — herrschen!