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4.

Im Grunde sind es zwei Verneinungen, die mein Wort Immoralist in sich schliesst. Ich verneine einmal einen Typus Mensch, der bisher als der höchste galt, die Guten, die Wohlwollenden, Wohltäthigen; ich verneine andrerseits eine Art Moral, welche als Moral an sich in Geltung und Herrschaft gekommen ist, die décadence-Moral, handgreiflicher geredet, die christliche Moral. Es wäre erlaubt, den zweiten Widerspruch als den entscheidenderen anzusehn, da die Überschätzung der Güte und des Wohlwollens, ins Grosse gerechnet, mir bereits als Folge der décadence gilt, als Schwäche-Symptom, als unverträglich mit einem aufsteigenden und jasagenden Leben: im Jasagen ist Verneinen und Vernichten Bedingung. — Ich bleibe zunächst bei der Psychologie des guten Menschen stehn. Um abzuschätzen, was ein Typus Mensch werth ist, muss man den Preis nachrechnen, den seine Erhaltung kostet, — muss man seine Existenzbedingungen kennen. Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge —: anders ausgedrückt, das Nicht-sehn-wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht der Art, um jeder Zeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger der Art, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen gutmüthigen Händen jeder Zeit gefallen zu lassen. Die Nothstände aller Art überhaupt als Einwand, als Etwas, das man abschaffen muss, betrachten, ist die niaiserie par excellence, ins Grosse gerechnet, ein wahres Unheil in seinen Folgen, ein Schicksal von Dummheit —, beinahe so dumm, als es der Wille wäre, das schlechte Wetter abzuschaffen — aus Mitleiden etwa mit den armen Leuten ... In der grossen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maasse nothwendiger als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte »Güte«; man muss sogar nachsichtig sein, um der letzteren, da sie in der Instinkt-Verlogenheit bedingt ist, überhaupt einen Platz zu gönnen. Ich werde einen grossen Anlass haben, die über die Maassen unheimlichen Folgen des Optimismus, dieser Ausgeburt der homines optimi, für die ganze Geschichte zu beweisen. Zarathustra, der Erste, der begriff, dass der Optimist ebenso décadent ist wie der Pessimist und vielleicht schädlicher, sagt: gute Menschen reden nie die Wahrheit. Falsche Küsten und Sicherheiten lehrten euch die Guten; in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten. Die Welt ist zum Glück nicht auf Instinkte hin gebaut, dass gerade bloss gutmüthiges Heerdengethier darin sein enges Glück fände; zu fordern, dass Alles »guter Mensch«, Heerdenthier, blauäugig, wohlwollend, »schöne Seele« — oder, wie Herr Herbert Spencer es wünscht, altruistisch werden solle, hiesse dem Dasein seinen grossen Charakter nehmen, hiesse die Menschheit castriren und auf eine armselige Chineserei herunterbringen. — Und dies hat man versucht! .. Dies eben hiess man Moral ... In diesem Sinne nennt Zarathustra die Guten bald »die letzten Menschen«, bald den »Anfang vom Ende«; vor Allem empfindet er sie als die schädlichste Art Mensch, weil sie ebenso auf Kosten der Wahrheit als auf Kosten der Zukunft ihre Existenz durchsetzen.

Die Guten — die können nicht schaffen, die sind immer der Anfang vom Ende —

— sie kreuzigen den, der neue Werthe auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen alle Menschen-Zukunft!

Die Guten — die waren immer der Anfang vom Ende ...

Und was auch für Schaden die Welt-Verleumder thun mögen, der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden.

5.

Zarathustra, der erste Psycholog der Guten, ist — folglich ein Freund der Bösen. Wenn eine décadence-Art Mensch zum Rang der höchsten Art aufgestiegen ist, so konnte dies nur auf Kosten ihrer Gegensatz-Art geschehn, der starken und lebensgewissen Art Mensch. Wenn das Heerdenthier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muss der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewerthet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort »Wahrheit« für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muss der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein. Zarathustra lässt hier keinen Zweifel: er sagt, die Erkenntniss der Guten, der »Besten« gerade sei es gewesen, was ihm Grausen vor dem Menschen überhaupt gemacht habe; aus diesem Widerwillen seien ihm die Flügel gewachsen, »fortzuschweben in ferne Zukünfte«, — er verbirgt es nicht, dass sein Typus Mensch, ein relativ übermenschlicher Typus, gerade im Verhältniss zu den Guten übermenschlich ist, dass die Guten und Gerechten seinen Übermenschen Teufel nennen würden ...

Ihr höchsten Menschen, denen mein Auge begegnete, das ist mein Zweifel an euch und mein heimliches Lachen: ich rathe, ihr würdet meinen Übermenschen — Teufel heissen!

So fremd seid ihr dem Grossen mit eurer Seele, dass euch der Übermensch furchtbar sein würde in seiner Güte ...

An dieser Stelle und nirgends wo anders muss man den Ansatz machen, um zu begreifen, was Zarathustra will: diese Art Mensch, die er concipirt, concipirt die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu —, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Grösse haben ...

6.

— Aber ich habe auch noch in einem andren Sinne das Wort Immoralist zum Abzeichen, zum Ehrenzeichen für mich gewählt; ich bin stolz darauf, dies Wort zu haben, das mich gegen die ganze Menschheit abhebt. Niemand noch hat die christliche Moral als unter sich gefühlt: dazu gehörte eine Höhe, ein Fernblick, eine bisher ganz unerhörte psychologische Tiefe und Abgründlichkeit. Die christliche Moral war bisher die Circe aller Denker, — sie standen in ihrem Dienst. — Wer ist vor mir eingestiegen in die Höhlen, aus denen der Gifthauch dieser Art von Ideal — der Weltverleumdung! — emporquillt? Wer hat auch nur zu ahnen gewagt, dass es Höhlen sind? Wer war überhaupt vor mir unter den Philosophen Psycholog und nicht vielmehr dessen Gegensatz »höherer Schwindler« »Idealist«? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. — Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein, es ist jedenfalls ein Schicksal: denn man verachtet auch als der Erste ... Der Ekel am Menschen ist meine Gefahr ...

7.

Hat man mich verstanden? — Was mich abgrenzt, was mich bei Seite stellt gegen den ganzen Rest der Menschheit, das ist, die christliche Moral entdeckt zu haben. Deshalb war ich eines Worts bedürftig, das den Sinn einer Herausforderung an Jedermann enthält. Hier nicht eher die Augen aufgemacht zu haben gilt mir als die grösste Unsauberkeit, die die Menschheit auf dem Gewissen hat, als Instinkt gewordner Selbstbetrug, als grundsätzlicher Wille, jedes Geschehen, jede Ursächlichkeit, jede Wirklichkeit nicht zu sehen, als Falschmünzerei in psychologicis bis zum Verbrechen. Die Blindheit vor dem Christenthum ist das Verbrechen par excellence — das Verbrechen am Leben ... Die Jahrtausende, die Völker, die Ersten und die Letzten, die Philosophen und die alten Weiber — fünf, sechs Augenblicke der Geschichte abgerechnet, mich als siebenten — in diesem Punkte sind sie alle einander würdig. Der Christ war bisher das »moralische Wesen«, ein . Curiosum ohne Gleichen — und, als »moralisches Wesen«, absürder, verlogner, eitler, leichtfertiger, sich selber nachtheiliger als auch der grösste Verächter der Menschheit es sich träumen lassen könnte. Die christliche Moral — die bösartigste Form des Willens zur Lüge, die eigentliche Circe der Menschheit: Das, was sie verdorben hat. Es ist nicht der Irrthum als Irrthum, was Mich bei diesem Anblick entsetzt, nicht der Jahrtausende lange Mangel an »gutem Willen«, an Zucht, an Anstand, an Tapferkeit im Geistigen, der sich in seinem Sieg verräth: — es ist der Mangel an Natur, es ist der vollkommen schauerliche Thatbestand, dass die Widernatur selbst als Moral die höchsten Ehren empfieng und als Gesetz, als kategorischer Imperativ, über der Menschheit hängen blieb! ... In diesem Maasse sich vergreifen, nicht als Einzelner, nicht als Volk, sondern als Menschheit! ... Dass man die allerersten Instinkte des Leben verachten lehrte; dass man eine »Seele«, einen »Geist« erlog, um den Leib zu Schanden zu machen; dass man in der Voraussetzung des Lebens, in der Geschlechtlichkeit, etwas Unreines empfinden lehrt; dass man in der tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen, in der strengen Selbstsucht (- das Wort schon ist verleumderisch! —) das böse Princip sucht; dass man umgekehrt in dem typischen Abzeichen des Niedergangs und der Instinkt-Widersprüchlichkeit, im »Selbstlosen«, im Verlust an Schwergewicht, in der »Entpersönlichung« und »Nächstenliebe« (- Nächstensucht!) den höheren Werth, was sage ich! den Werth an sich sieht! ... Wie! wäre die Menschheit selber in décadence? war sie es immer? — Was feststeht, ist, dass ihr nur Décadence-Werthe als oberste Werthe gelehrt worden sind. Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par excellence, die Thatsache »ich gehe zu Grunde«, in den Imperativ übersetzt: »ihr sollt alle zu Grunde gehn« — und nicht nur in den Imperativ! ... Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verräth einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. — Hier bliebe die Möglichkeit offen, dass nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Werth-Bestimmern emporgelogen hat, — die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht errieth ... Und in der That, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesammt, waren insgesammt auch décadents: daher die Umwerthung aller Werthe ins Lebensfeindliche, daher die Moral ... Definition der Moral: Moral — die Idiosynkrasie von décadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben zu rächen — und mit Erfolg. Ich lege Werth auf diese Definition. —

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