Und auch in diesem wichtigen, vielleicht verantwortungsvollsten Bezirk seines Amtes, dem Weitergeben des Oberlieferten und Erziehen von Nachfolgern, blieb dem Wettermacher eine sehr schwere und bittre Erfahrung und Enttäuschung nicht erspart. Der erste Lehrling, der sich um seine Gunst bemühte und ihn nach langem Warten und Abwehren zum Meister bekam, hieß Maro und brachte ihm eine niemals ganz zu verwindende Enttäuschung. Er war unterwürfig und schmeichlerisch und spielte lange Zeit den unbedingt Gehorsamen, es fehlte ihm aber an diesem und jenem, es fehlte ihm an Mut vor allem, er fürchtete namentlich die Nacht und Dunkelheit, was er zu verheimlichen suchte und was Knecht, wenn er es doch bemerkte, noch lange Zeit für einen Rest von Kindheit hielt, der sich verlieren werde. Er verlor sich aber nicht. Es fehlte diesem Schüler auch völlig die Gabe, sich selbstlos und absichtslos an das Beobachten, an die Verrichtungen und Vorgänge des Berufs, an Gedanken und Ahnungen hinzugeben. Er war klug, ein heller, schneller Verstand war ihm eigen, und er lernte das, was ohne Hingabe gelernt werden kann, leicht und sicher. Aber mehr und mehr zeigte sich, daß er selbstsüchtige Absichten und Ziele hatte, derentwegen er die Regenmacherei erlernen wollte. Vor allem wollte er etwas gelten, eine Rolle spielen und Eindruck machen, er hatte die Eitelkeit des Begabten, aber nicht Berufenen. Er strebte nach Beifall, prahlte vor seinen Altersgenossen mit seinen ersten Kenntnissen und Künsten – auch das mochte kindlich sein und konnte sich vielleicht bessern. Aber er suchte nicht nur Beifall, sondern strebte nach Macht über andre und nach Vorteil; als der Meister dies zu merken begann, erschrak er und zog allmählich sein Herz von dem Jüngling ab. Dieser wurde zweimal und dreimal schwerer Verfehlungen überführt, nachdem er schon mehrere Jahre bei Knecht gelernt hatte. Er ließ sich verleiten, eigenmächtig, ohne Wissen und Erlaubnis seines Meisters und gegen Geschenke bald ein erkranktes Kind mit Arznei zu behandeln, bald in einer Hütte Beschwörungen gegen die Rattenplage vorzunehmen, und als er trotz allen Drohungen und Versprechen nochmals bei ähnlichen Praktiken ertappt wurde, entließ ihn der Meister aus seiner Lehre, zeigte die Sache der Ahnmutter an und versuchte, den undankbaren und unbrauchbaren jungen Menschen aus seinem Gedächtnis auszutilgen.
Es entschädigten ihn dann seine beiden späteren Schüler und ganz besonders der zweite von ihnen, der sein eigener Sohn Turu war. Diesen jüngsten und letzten seiner Lehrlinge und Jünglinge liebte er sehr und glaubte, daß mehr aus ihm werden könne, als er selbst sei, sichtlich war seines Großvaters Geist in ihm wiedergekehrt. Knecht erlebte die seelenstärkende Genugtuung, die Summe seines Wissens und Glaubens an die Zukunft weitergegeben zu haben und einen Menschen zu wissen, zwiefach sein Sohn, dem er jeden Tag sein Amt übergeben konnte, wenn es ihm selber zu mühsam würde. Aber jener mißratene erste Schüler ließ sich dennoch aus seinem Leben und seinen Gedanken nicht wieder hinwegbannen, er wurde im Dorfe ein zwar nicht hochgeehrter, aber doch bei vielen höchst beliebter und nicht einflußloser Mann, er hatte geheiratet, war als eine Art Gaukler und Spaßmacher beliebt, war sogar Obertrommler im Trommlerchor und blieb ein heimlicher Feind und Neider des Regenmachers, von welchem dieser manchen kleinen und auch großen Tort erleiden mußte. Knecht war niemals ein Mann der Freundschaften und des Zusammensitzens gewesen, er brauchte Alleinsein und Freiheit, er hatte nie um Achtung oder Liebe geworben, es sei denn einst als Knabe beim Meister Turu. Aber nun bekam er doch zu fühlen, was es ist, einen Feind und Hasser zu haben; es verdarb ihm manchen Tag seines Lebens.
Maro hatte zu jener Art von Schülern gehört, zu jener sehr begabten Art, welche trotz ihrer Begabung zu allen Zeiten den Lehrern unangenehm und lastig ist, weil bei ihnen das Talent nicht eine von unten und innen her gewachsene und begründete organische Stärke ist, das zarte adelnde Stigma einer guten Natur, eines tüchtigen Blutes und eines tüchtigen Charakters, sondern gleichsam etwas Angeflogenes, Zufälliges, ja Usurpiertes oder Gestohlenes. Ein Schüler von geringem Charakter, aber hohem Verstand oder glänzender Phantasie bringt unweigerlich den Lehrer in Verlegenheit: er soll diesem Schüler das Ererbte an Wissen und Methode beibringen und ihn zur Mitarbeit am geistigen Leben fähig machen – und muß doch fühlen, daß seine eigentliche, höhere Pflicht es wäre, die Wissenschaften und Künste gerade vor dem Zudrang der Nurbegabten zu schützen; denn der Lehrer hat ja nicht dem Schüler zu dienen, sondern beide dem Geist. Dies ist der Grund, warum die Lehrer vor gewissen blendenden Talenten eine Scheu und ein Grauen haben; jeder derartige Schüler verfälscht den ganzen Sinn und Dienst der Lehrarbeit. Jede Förderung eines Schülers, der zwar zu glänzen, aber nicht zu dienen fähig ist, bedeutet im Grunde eine Schädigung des Dienstes, eine Art von Verrat am Geist. Wir kennen in der Geschichte mancher Völker Perioden, in welchen, bei tiefgehender Störung der geistigen Ordnungen, geradezu ein Ansturm der Nurbegabten auf die Leitung der Gemeinden, der Schulen und Akademien, der Staaten stattgefunden hat und in allen Ämtern hochtalentierte Leute saßen, welche alle regieren wollten, ohne dienen zu können. Diese Art von Talenten rechtzeitig zu erkennen, noch ehe sie sich der Fundamente eines geistigen Berufes bemächtigt haben, und sie mit der notwendigen Härte auf die Wege zu ungeistigen Berufen zurückzuschicken, ist gewiß oft sehr schwer. Auch Knecht hatte Fehler gemacht, er hatte mit dem Lehrling Maro allzu lange Geduld gehabt, er hatte einem Streber und Oberflächlichen manche Adeptenweisheit anvertraut, um die es schade war. Die Folgen waren für ihn selbst schwerere, als er je gedacht hätte.
Es kam ein Jahr – Knechts Bart war schon ziemlich grau geworden –, da schien die Ordnung zwischen Himmel und Erde durch Dämonen von ungewöhnlicher Kraft und Tücke verrückt und gestört worden zu sein. Diese Störungen begannen im Herbste schauerlich und majestätisch, jede Seele bis zum Grunde erschreckend und mit Angst beklemmend, mit einem nie gesehenen Himmelsschauspiel, bald nach der Zeit der Tag- und Nachtgleiche, welche vom Regenmacher immer mit einer gewissen Feierlichkeit und ehrfürchtigen Andacht, mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit beobachtet und erlebt wurde. Da kam ein Abend, leicht, windig und etwas kühl, der Himmel glasig klar bis auf wenige unruhige Wölkchen, die in sehr großer Höhe schwebten und das rosige Licht der untergegangenen Sonne ungewöhnlich lange festhielten: treibende, lockere und schaumige Lichtbündel im kalten, bleichen Weltraum. Knecht hatte schon seit einigen Tagen etwas gespürt, das stärker und merkwürdiger war als das, was jedes Jahr um diese Zeit der beginnenden kürzeren Tage zu spüren war, ein Wirken der Mächte im Himmelsraum, eine Bangigkeit der Erde, der Pflanzen und Tiere, eine Unruhe in den Lüften, etwas Unstetes, Wartendes, Banges, Ahnungsvolles in aller Natur, auch die lang und zuckend nachflammenden Wölkchen dieser Abendstunde gehörten dazu mit ihren flatternden Bewegungen, welche nicht dem auf Erden wehenden Winde entsprachen, und ihrem flehenden, sich lang und trauernd gegen das Erlöschen wehrenden roten Licht, nach dessen Erkalten und Schwinden sie plötzlich unsichtbar waren. Im Dorf war es ruhig, vor der Hütte der Altmutter hatten die Besucher und zuhörenden Kinder sich schon lange verloren, ein paar Knaben jagten und rauften sich noch, sonst war alles schon in den Hütten, hatte längst gegessen. Viele schliefen schon, kaum daß jemand, außer dem Regenmacher, die abendroten Wolken beobachtete. Knecht ging in der kleinen Pflanzung hinter seiner Hütte auf und ab, dem Wetter nachgrübelnd, gespannt und ruhelos, zuweilen setzte er sich zu kurzer Rast auf den Baumklotz, der zwischen den Brennesseln stand und zum Holzspalten diente. Mit dem Erlöschen der letzten Wolkenkerze wurden die Sterne in dem noch hell und grünlich nachschimmernden Himmel plötzlich deutlicher sichtbar und nahmen schnell an Zahl und an Leuchtkraft zu; wo eben noch zwei oder drei sichtbar gewesen waren, standen schon zehn, zwanzig. Viele von ihnen und ihren Gruppen und Familien waren dem Regenmacher bekannt, er hatte sie viel hundertmal gesehen; ihre unveränderte Wiederkehr hatte etwas Beruhigendes, Sterne waren tröstlich, fern zwar und kalt standen sie oben, keine Wärme strahlend, aber zuverlässig, fest gereiht, Ordnung verkündend, Dauer versprechend. Dem Leben auf Erden, dem Leben der Menschen anscheinend so fremd und fern und entgegengesetzt, so unrührbar von seiner Wärme, seinen Zuckungen, Leiden und Ekstasen, ihm mit ihrer vornehm kalten Majestät und Ewigkeit so bis zum Spott überlegen, waren die Sterne dennoch in Beziehung zu uns, leiteten und regierten uns vielleicht, und wenn irgendein menschliches Wissen, ein geistiger Besitz, eine Sicherheit und Überlegenheit des Geistes über das Vergängliche erreicht und festgehalten wurde, so glichen sie den Sternen, strahlten wie sie in kühler Ruhe, trösteten mit kühlem Schauer, blickten ewig und etwas spöttisch. So war es dem Regenmacher oft erschienen, und wenn er auch zu den Sternen keineswegs das nahe, erregende, in beständiger Änderung und Wiederkehr sich erprobende Verhältnis hatte wie zum Monde, dem Großen, Nahen, Feuchten, dem fetten Zauberfisch im Himmelsmeer, so verehrte er sie doch tief und war ihnen durch manchen Glauben verbunden. Sie lange anzublicken und auf sich einwirken zu lassen, seine Klugheit, seine Wärme, seine Bangigkeit ihren kaltstillen Blicken darzubieten, war ihm oft wie Bad und Heiltrank gewesen.
Auch heute blickten sie wie immer, nur sehr hell und wie scharfgeschliffen in der straffen, dünnen Luft, aber er fand nicht die Ruhe in sich, sich ihnen hinzugeben, es zog aus unbekannten Räumen her eine Macht an ihm, schmerzte in den Poren, sog an den Augen, wirkte still und stetig, ein Strom, eine warnende Bebung. Nebenan in der Hütte glomm trübrot das warme schwache Licht der Herdglut, floß das kleine warme Leben, klang ein Zuruf, ein Lachen, ein Gähnen, atmete Menschengeruch, Hautwärme, Mütterlichkeit, Kinderschlaf, und schien durch seine harmlose Nähe die angebrochene Nacht noch zu vertiefen, die Sterne noch weiter zurück in die unbegreifliche Ferne und Höhe zu treiben.
Und jetzt, während Knecht in der Hütte drinnen die Stimme Adas, ein Kind beruhigend, melodisch tief sumsen und brummen hörte, begann am Himmel die Katastrophe, deren das Dorf noch jahrelang gedenken sollte. Es trat in dem stillen blanken Netz der Sterne da und dort ein Flimmern und Flackern ein, als zuckten die sonst unsichtbaren Fäden dieses Netzes flammend auf, es fielen, wie Steine geworfen, aufglühend und rasch wieder erlöschend, einzelne Sterne schräg durch den Raum, hier einer, dort zwei, hier ein paar, und noch hatte das Auge den ersten entschwundenen Fallstern nicht losgelassen, noch hatte das Herz, vom Anblick versteinert, nicht wieder zu schlagen begonnen, da jagten sich die schräg und in leicht gekrümmter Linie durch den Himmel fallenden oder geschleuderten Lichter schon in Schwärmen von Dutzenden, von Hunderten, in unzählbaren Scharen trieben sie wie von einem stummen Riesensturm getragen quer durch die schweigende Nacht, als habe ein Weltenherbst alle Sterne wie welke Blätter vom Himmelsbaum gerissen und jage sie lautlos dahin, ins Nichts. Wie welke Blätter, wie wehende Schneeflocken flohen sie. Tausende und Tausende, in schauerlicher Stille dahin und hinab, hinter den südöstlichen Waldbergen verschwindend, wo noch niemals seit Menschengedenken ein Stern untergegangen war, irgendwohin ins Bodenlose hinab.