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Durch diese und manche andre Prüfungen war sein Leben geführt worden, als er das reife Mannesalter erreichte und auf seiner Lebenshöhe stand. Er hatte zwei Ahnfrauen des Stammes begraben helfen, er hatte ein hübsches sechsjähriges Söhnlein verloren, es war vom Wolf geholt worden, er hatte eine schwere Krankheit ohne fremde Hilfe überstanden, sein eigener Arzt. Er hatte Hunger und Frost gelitten. Dies alles hatte sein Gesicht gezeichnet und nicht minder seine Seele. Er hatte auch die Erfahrung gemacht, daß geistige Menschen bei den andern eine gewisse wunderliche Art von Anstoß und Widerwillen erregen, daß man sie zwar aus der Ferne schätzt und in Notfällen in Anspruch nimmt, sie aber keineswegs liebt und als seinesgleichen empfindet, ihnen vielmehr ausweicht. Auch das hatte er erfahren, daß überkommene oder frei erfundene Zaubersprüche und Bannformeln vom Kranken oder Unglücklichen viel williger angenommen werden als vernünftiger Rat, daß der Mensch lieber Ungemach und äußere Buße auf sich nimmt als sich im Innern ändert oder auch nur prüft, daß er an Zauber leichter glaubt als an Vernunft, an Formeln leichter als an Erfahrung: lauter Dinge, welche sich in den paar tausend Jahren seither vermutlich nicht so sehr geändert haben, als manche Geschichtsbücher behaupten. Er hatte aber auch gelernt, daß ein forschender geistiger Mensch die Liebe nicht verlieren darf, daß er den Wünschen und Torheiten der Menschen ohne Hochmut entgegenkommen, sich aber nicht von ihnen beherrschen lassen dürfe, daß es vom Weisen zum Scharlatan, vom Priester zum Gaukler, vom helfenden Bruder zum schmarotzenden Nutznießer immer nur einen Schritt weit ist und daß die Leute im Grunde weit lieber einen Gauner bezahlen, sich von einem Marktschreier ausnützen lassen, als ohne Entgelt eine selbstlos geleistete Hilfe annehmen. Sie wollten nicht gern mit Vertrauen und Liebe bezahlen, sondern lieber mit Geld und Ware. Sie betrogen einander und erwarteten, selbst betrogen zu werden. Man mußte lernen, den Menschen als ein schwaches, selbstsüchtiges und feiges Wesen zu sehen, man mußte auch einsehen, wie sehr man selbst an allen diesen üblen Eigenschaften und Trieben teilhabe, und durfte dennoch daran glauben und seine Seele davon nähren, daß der Mensch auch Geist und Liebe sei, daß etwas in ihm wohne, das den Trieben entgegensteht und ihre Veredlung ersehnt. Aber diese Gedanken sind wohl schon allzu losgelöst und überformuliert, als daß Knecht ihrer fähig gewesen wäre. Sagen wir: er war zu ihnen unterwegs, sein Weg würde einmal zu ihnen und durch sie hindurchführen.

Indes er diesen Weg ging, sich nach Gedanken sehnend, jedoch weit mehr im Sinnlichen lebend, im Bezaubertsein durch den Mond, durch den Duft eines Krautes, die Salze einer Wurzel, den Geschmack einer Rinde, durch das Züchten von Heilpflanzen, das Kochen von Salben, die Hingabe an Wetter und Atmosphäre, bildete er manche Fähigkeiten in sich aus, auch solche, welche wir Späteren nicht mehr besitzen und nur noch halb verstehen. Die wichtigste dieser Fähigkeiten war natürlich das Regenmachen. Wenn auch zu manchen besonderen Malen der Himmel hart blieb und seine Bemühungen grausam zu verhöhnen schien, so hat Knecht doch hundertmal Regen gemacht, und beinahe jedesmal auf eine ein wenig andere Weise. An den Opfern zwar und am Ritus der Bittgänge, der Beschwörungen, der Trommelmusiken hätte er nicht das kleinste zu ändern oder wegzulassen gewagt. Aber dies war ja nur der offizielle, der öffentliche Teil seiner Tätigkeit, ihre amtliche und priesterliche Schauseite; und gewiß war es sehr schön und gab ein herrliches Hochgefühl, wenn am Abend eines mit Opfer und Prozession begangenen Tages der Himmel sich ergab, der Horizont sich bewölkte, der Wind feucht zu riechen begann, die ersten Tropfen herabwehten. Allein auch da hatte es erst der Kunst des Wettermachers bedurft, um den Tag gut zu wählen, um nicht blind das Aussichtslose anzustreben; man durfte die Mächte wohl anflehen, ja bestürmen, aber mit Gefühl und Maß, mit Ergebung in ihren Willen. Und lieber noch als jene schönen triumphalen Erlebnisse von Erfolg und Erhörung waren ihm gewisse andre, von welchen niemand wußte als er selbst, und auch er selbst wußte nur mit Scheu und mehr mit den Sinnen als mit dem Verstande von ihnen. Es gab Lagen des Wetters, Spannungen der Luft und der Wärme, es gab Bewölkungen und Winde, gab Arten von Wasser- und von Erd- und Staubgeruch, gab Drohungen oder Versprechungen, gab Stimmungen und Launen der Wetterdämonen, welche Knecht in seiner Haut, seinem Haar, seinen sämtlichen Sinnen voraus- und mitempfand, so daß er von nichts überrascht, von nichts enttäuscht werden konnte, daß er mitschwingend das Wetter in sich konzentrierte und es in einer Weise in sich trug, die ihn befähigte, Wolken und Winden zu gebieten: nicht freilich aus einer Willkür und nach freiem Belieben, sondern eben aus dieser Verbundenheit und Gebundenheit heraus, welche den Unterschied zwischen ihm und der Welt, zwischen Innen und Außen vollkommen aufhob. Dann konnte er verzückt stehen und lauschen, verzückt kauern und alle Poren offen haben und das Leben der Lüfte und Wolken m seinem Innern nicht mehr nur mitfühlen, sondern dirigieren und erzeugen, etwa so, wie wir einen Satz Musik, den wir genau kennen, in uns innen wecken und reproduzieren können. Dann brauchte er nur den Atem anzuhalten – und der Wind oder Donner schwieg, brauchte nur mit dem Kopf zu nicken oder zu schütteln – und der Hagel brach los oder blieb aus, brauchte nur dem Ausgleich der kämpfenden Kräfte in sich durch ein Lächeln Ausdruck zu geben – und droben schlugen die Wolkenfalten sich auseinander und entblößten das dünne lichte Blau. In manchen Zeiten von besonders reiner Gestimmtheit und Seelenordnung trug er das Wetter der kommenden Tage genau und untrüglich vorauswissend in sich, als stünde in seinem Blut die ganze Partitur geschrieben, nach welcher draußen gespielt werden mußte. Das waren seine guten und besten Tage, seine Belohnungen, seine Wonnen.

Wenn jedoch diese innige Verbindung mit dem Außen unterbrochen, wenn Wetter und Welt unvertraut, unverständlich und unberechenbar waren, dann waren auch in seinem Innern Ordnungen gestört und Ströme unterbrochen, dann fühlte er, daß er kein rechter Regenmacher sei, und empfand sein Amt und seine Verantwortlichkeit für Wetter und Ernte als lästig und ungerecht. In diesen Zeiten war er häuslich, war Ada gehorsam und behilflich, nahm sich mit ihr des Haushaltes beflissen an, machte den Kindern Spielzeug und Werkzeug, kochte an Arzneien herum, war liebebedürftig und empfand den Drang, sich so wenig als möglich von anderen Männern zu unterscheiden, sich völlig in Brauch und Sitte zu fügen und sogar die ihm sonst eher lästigen Erzählungen seiner Frau und der Nachbarinnen über das Leben, Befinden und Gehaben anderer Leute anzuhören. In den guten Zeiten aber sah man ihn zu Hause wenig, dann schweifte er und war draußen, angelte, jagte, suchte Wurzeln, lag im Grase oder hockte in Bäumen, schnupperte, lauschte, ahmte die Stimme von Tieren nach, hatte Feuerchen brennen und verglich die Formen der Rauchwolken mit denen der Himmelswölken, tränkte Haut und Haar mit Nebel, mit Regen, mit Luft, mit Sonne oder Mondlicht und sammelte nebenbei, wie es sein Meister und Vorgänger Turu zeitlebens getan hatte, solche Gegenstände, in welchen Wesen und Erscheinungsform verschiedenen Bereichen anzugehören schienen, in welchen die Weisheit oder Laune der Natur ein Stückchen ihrer Spielregeln und Schöpfungsgeheimnisse zu verraten schien, Gegenstände, welche weit Getrenntes gleichnishaft in sich vereinigten, zum Beispiel: Astknorren mit Menschen- und Tiergesichtern, wassergeschliffene Kiesel mit einer Maserung, als wären sie Holz, versteinerte Tierformen der Vorwelt, mißgebildete oder zwillingsgestaltete Fruchtkerne, Steine in der Form einer Niere oder eines Herzens. Er las die Zeichnungen auf einem Baumblatt, die netzförmigen Lineamente auf dem Kopf einer Morchel und ahnte dabei Geheimnisvolles, Geistiges, Künftiges, Mögliches: Magie der Zeichen, Vorahnung von Zahl und Schrift, Bannung des Unendlichen und Tausendgestaltigen ins Einfache, ins System, in den Begriff. Denn es lagen doch wohl alle diese Möglichkeiten der Weltergreifung durch den Geist in ihm, namenlos zwar, unbenannt, aber nicht unmöglich, nicht unerahnbar, Keim und Knospe noch, aber ihm wesentlich, ihm eigen und organisch in ihm wachsend. Und wenn wir auch, über diesen Regenmacher und seine uns früh und primitiv anmutende Zeit hinaus, noch um weitere Jahrtausende zurückgehen könnten: wir würden, das ist unser Glaube, mit dem Menschen zugleich überall auch schon den Geist antreffen, den Geist, der ohne Anfang ist und immer schon alles und jedes enthalten hat, was er später je hervorbringt.

Es war dem Wettermacher nicht bestimmt, eine seiner Ahnungen zu verewigen und der Beweisbarkeit näherzuführen, deren sie für ihn auch kaum bedurften. Weder wurde er einer der vielen Erfinder der Schrift, noch der Geometrie, noch der Medizin oder Astronomie. Er blieb ein unbekanntes Glied in der Kette, aber ein Glied so unentbehrlich wie jedes: er gab weiter, was er empfangen hatte, und er gab neu Erworbenes und Erkämpftes hinzu. Denn auch er hatte Schüler. Zwei Lehrlinge bildete er im Lauf der Jahre zu Regenmachern aus, deren einer später sein Nachfolger wurde.

Lange Jahre trieb er sein Gewerbe und Wesen unbelauscht und allein, und als zum erstenmal – es war nicht lange nach einer großen Mißwachs- und Hungersnot – ein Jüngling ihn zu besuchen, zu beobachten, zu umlauern, zu verehren und zu verfolgen begann, einer, den es zur Regenmacherei und zum Meister trieb, da empfand er mit einer wunderlich wehmütigen Bewegung des Herzens die Wiederkehr und Umkehr jenes großen Erlebnisses seiner Jugend und empfand dabei zum erstenmal jenes mittägliche, strenge, zugleich einschnürende und aufweckende Gefühl: daß die Jugend vorüber, daß der Mittag überschritten, die Blüte Frucht geworden sei. Und was er nie gedacht hätte, er verhielt sich gegen den Knaben ganz gleich, wie einst der alte Turu sich gegen ihn selbst verhalten hatte, und dies spröde, abweisende, zuwartende, hinauszögernde Verhalten ergab sich ganz von selber, ganz instinktiv, es war weder eine Nachahmung des verstorbenen Meisters, noch kam es aus Erwägungen moralischer und erzieherischer Art, wie daß man einen jungen Menschen erst lange prüfen müsse, ob es ihm ernst genug sei, daß man den Zugang zur Einweihung in Geheimnisse keinem leicht machen, ihn vielmehr recht sehr erschweren müsse und dergleichen. Nein, Knecht benahm sich gegen seine Lehrlinge ganz einfach so, wie sich jeder schon ein wenig alternde Einzelgänger und gelehrte Sonderling gegen Verehrer und Schüler benimmt: verlegen, scheu, abweisend, fluchtbereit, voll Bangen um seine schöne Einsamkeit und Freiheit, um sein Schweifen in der Wildnis, sein einsames freies Jagen und Sammeln, Träumen und Lauschen, voll eifersüchtiger Liebe zu allen seinen Gewohnhalten und Liebhabereien, seinen Geheimnissen und Versunkenheiten. Keineswegs umarmte er den zaghaften jungen Menschen, der sich ihm mit verehrender Neugierde näherte, keineswegs half er ihm über diese Zaghaftigkeit hinweg und ermunterte ihn, keineswegs empfand er es als Freude und Lohn, als Anerkennung und angenehmen Erfolg, daß nun endlich die Welt der anderen ihm einen Sendboten und eine Liebeserklärung zuschickte, daß jemand ihn umwarb, daß jemand sich ihm zugetan und verwandt und gleich ihm zum Dienst an den Geheimnissen berufen fühlte. Nein, er empfand es vorerst nur als lästige Störung, als einen Griff in seine Rechte und Gewohnheiten, einen Raub an seiner Unabhängigkeit, von der er jetzt erst sah, wie sehr er sie liebte; er sträubte sich dagegen und wurde erfinderisch im Überlisten und Sichverbergen, im Verwischen seiner Fährte, im Ausbiegen und Entkommen. Aber auch darin ging es ihm, wie es einst Turu gegangen war, daß das lange, stumme Werben des Jungen ihm langsam das Herz erweichte, seinen Widerstand langsam, langsam ermüdete und schmolz und daß er, je mehr der Junge an Boden gewann, in langsamem Fortschritt sich ihm zuwenden und öffnen, sein Verlangen gutheißen, sein Werben annehmen und in der neuen, oft so lästigen Pflicht des Anlernens und Schülerhabens das Unabwendbare, das vom Schicksal Gegebene und vom Geist Gewollte sehen lernte. Mehr und mehr mußte er Abschied nehmen vom Traum, von dem Gefühl und Genuß der unendlichen Möglichkeiten, der tausendfältigen Zukunft. Statt des Traumes vom unendlichen Fortschritt, von der Summe aller Weisheit, stand nun der Schüler da, eine kleine, nahe, fordernde Wirklichkeit, ein Eindringling und Störenfried, aber unabweisbar und unabwendbar, der einzige Weg in die wirkliche Zukunft, die einzige, wichtigste Pflicht, der einzige schmale Weg, auf welchem des Regenmachers Leben und Taten, Gesinnungen, Gedanken und Ahnungen vor dem Tode bewahrt bleiben und in einer kleinen neuen Knospe fortleben konnten. Seufzend, knirschend und lächelnd nahm er es auf sich.

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