Der Regenmacher gehörte zwar zu den wenigen, welche einen Beruf ausübten, eine spezielle Kunst und Fähigkeit eigens ausgebildet hatten, doch war sein Alltagsleben von dem aller andern nach außen hin nicht so sehr verschieden. Er war ein hoher Beamter und genoß Ansehen, erhielt auch Abgaben und Lohn vom Stamm, sooft er für die Allgemeinheit zu tun hatte, doch kam dies nur bei besonderen Anlässen vor. Seine weitaus wichtigste und feierlichste, ja heilige Funktion war es, im Frühling für jede Art von Frucht und Kraut den Tag der Aussaat zu bestimmen; dies tat er unter genauer Berücksichtigung des Mondstandes teils nach ererbten Regeln, teils nach der eigenen Erfahrung. Die feierliche Handlung der Saateröffnung selbst, das Ausstreuen der ersten Handvoll Korn und Samen ins Gemeindeland, gehörte aber schon nicht mehr zu seinem Amt, so hoch stand kein Mann im Range; es wurde alljährlich von der Ahnmutter selbst oder deren ältesten Verwandten vollzogen. Zur wichtigsten Person des Dorfes wurde der Meister in jenen Fällen, wo er wirklich als Wettermacher zu amten hatte. Dies geschah, wenn eine lange Trockenheit, Nässe oder Kälte die Felder belagerte und den Stamm mit Hungersnot bedrohte. Dann hatte Turu die Mittel anzuwenden, die man gegen Dürre und Mißwachs kannte: Opfer, Beschwörungen, Bittgänge. Der Sage nach gab es, wenn bei hartnäckiger Trockenheit oder endlosem Regen alle anderen Mittel versagten und die Geister durch kein Zureden, Flehen oder Drohen umzustimmen waren, noch ein letztes unfehlbares Mittel, das zu Zeiten der Mütter und Großmütter des öfteren sollte angewandt worden sein; die Opferung des Wettermachers selbst durch die Gemeinde. Die Ahnmutter, sagte man, habe dies noch erlebt und mitangesehen.
Außer der Sorge um das Wetter hatte der Meister noch eine Art privater Praxis, als Geisterbeschwörer, als Anfertiger von Amuletten und Zaubermitteln und in gewissen Fällen als Arzt, soweit dies nicht der Ahnmutter vorbehalten war. Im übrigen aber lebte Meister Turu das Leben jedes andern. Er half, wenn die Reihe an ihn kam, das Gemeindeland bestellen und hatte bei der Hütte auch seinen eigenen kleinen Pflanzgarten. Er sammelte Früchte, Pilze, Brennholz und bewahrte sie auf. Er fischte und jagte und hielt eine Ziege oder zwei. Als Bauer war er gleich jedem andern, als Jäger, Fischer und Kräutersucher aber war er nicht gleich irgendeinem andern, sondern war ein Einzelgänger und Genie und stand im Ruf, eine Menge von natürlichen und magischen Listen, Griffen, Vorteilen und Hilfsmitteln zu kennen. Einer von ihm geflochtenen Weidenschlinge, hieß es, konnte kein gefangenes Tier wieder entrinnen, die Fischköder wußte er durch besondere Mittel duftend und schmackhaft zu machen, er verstand es, die Krebse an sich zu locken, und es gab Leute, welche glaubten, daß er auch die Sprache mancher Tiere verstehe. Sein eigentlichstes Gebiet aber war doch das seiner magischen Wissenschaft: das Beobachten des Mondes und der Sterne, die Kenntnis der Wetterzeichen, das Vorgefühl für Witterung und Wachstum, die Beschäftigung mit allem, was als Hilfsmittel magischer Wirkungen diente. So war er groß als Kenner und Sammler von jenen Gebilden der Pflanzen- und Tierwelt, welche als Heilmittel und als Gifte, als Träger von Zauber, als Segen und Schutzmittel gegen die Unheimlichen dienen konnten. Er kannte und fand ein jedes Kraut, auch das seltenste, er wußte, wo und wann es blühe und Samen trage, wann es Zeit sei, seine Wurzel zu graben. Er kannte und fand alle Arten von Schlangen und Kröten, wußte mit der Verwendung von Hörnern, Hufen, Klauen, Haaren Bescheid, kannte sich mit den Verwachsungen, Mißbildungen, Spuk- und Schreckformen aus, den Knollen, Kröpfen und Warzen am Holz, am Blatt, am Korn, an der Nuß, am Hörn und Huf.
Knecht hatte mehr mit den Sinnen, mehr mit Fuß und Hand, mit Auge, Hautgefühl, Ohr und Geruchsinn zu lernen als mit dem Verstande, und Turu lehrte weit mehr durch Beispiel und Zeigen als durch Worte und Lehren. Es war selten, daß der Meister überhaupt zusammenhängend sprach, und auch dann waren die Worte nur ein Versuch, seine außerordentlich eindrücklichen Gebärden noch zu verdeutlichen. Knechts Lehre war wenig verschieden von der Lehre, welche etwa ein junger Jäger oder Fischer bei einem guten Meister durchmacht, und sie machte ihm große Freude, denn er lernte nur, was schon in ihm lag. Er lernte lauern, lauschen, sich anschleichen, beobachten, auf der Hut sein, wach sein, schnuppern und spüren; aber das Wild, auf das er und sein Meister lauerten, war nicht nur Fuchs und Dachs, Otter und Kröte, Vogel und Fisch, sondern der Geist, das Ganze, der Sinn, der Zusammenhang. Das flüchtige, launische Wetter zu bestimmen, zu erkennen, zu erraten und vorauszuwissen, den in Beere und Schlangenbiß bereitliegenden Tod zu kennen, das Geheimnis zu belauschen, nach welchem die Wolken und die Stürme mit den Zuständen des Mondes zusammenhingen und auf Saat und Wachstum ebenso einwirkten wie auf Gedeihen und Verderb des Lebens in Mensch und Tier, darauf waren sie aus. Sie strebten dabei wohl eigentlich nach demselben Ziel, wie die Wissenschaft und Technik späterer Jahrtausende es tat, nach dem Beherrschen der Natur und dem Spielenkönnen mit ihren Gesetzen, aber sie taten es auf einem vollkommen anderen Wege. Sie trennten sich nicht von der Natur und suchten in ihre Geheimnisse nicht gewaltsam einzudringen, sie waren nie der Natur entgegengesetzt und feindlich, immer ein Teil von ihr und ihr mit Ehrfurcht hingegeben. Es ist wohl möglich, daß sie sie besser kannten und klüger mit ihr umgingen. Eines aber war ihnen ganz und gar unmöglich, nicht einmal in den verwegensten Gedanken: der Natur und der Geisterwelt ohne Angst zugetan und untertan zu sein oder sich gar ihr überlegen zu fühlen. Diese Hybris war ihnen undenkbar, und zu den Mächten der Naturkräfte, zum Tod, zu den Dämonen ein andres Verhältnis als das der Angst zu haben, wäre ihnen unmöglich erschienen. Die Angst stand beherrschend über dem Leben der Menschen. Sie zu überwinden schien unmöglich. Aber sie zu sänftigen, sie in Formen zu bannen, zu überlisten und zu maskieren, sie ins Ganze des Lebens einzuordnen, dazu dienten die verschiedenen Systeme der Opfer. Die Angst war der Druck, unter dem das Leben dieser Menschen stand, und ohne diesen hohen Druck hätte ihrem Leben zwar der Schrecken, aber auch die Intensität gefehlt. Wem es gelang, einen Teil der Angst in Ehrfurcht zu veredeln, der hatte viel gewonnen, Menschen dieser Art, Menschen, deren Angst zu Frömmigkeit geworden war, waren die Guten und Vorgeschrittenen jenes Zeitalters. Geopfert wurde viel und in vielen Formen, und ein gewisser Teil dieser Opfer und ihrer Riten gehörte zum Amtsbereich des Wettermachers.
Neben Knecht wuchs in der Hütte die kleine Ada auf, ein hübsches Kind, des Alten Liebling, und als diesem die Zeit gekommen schien, gab er sie seinem Schüler zur Frau. Knecht galt von jetzt an als des Regenmachers Gehilfe, Turu stellte ihn der Dorfmutter als seinen Schwiegersohn und Nachfolger vor und ließ sich von da an in manchen Verrichtungen und Amtshandlungen von ihm vertreten. Allmählich, mit den Jahreszeiten und Jahren, versank der alte Regenmacher ganz in die einsame Beschaulichkeit der Greise und überließ ihm sein ganzes Amt, und als er starb – man fand ihn tot am Herdfeuer hocken, über einige Töpfchen mit magischem Gebräu gebückt, das weiße Haar vom Feuer angesengt –, da war schon seit langem der Junge, der Schüler Knecht, dem Dorfe als Regenmacher bekannt. Er verlangte vom Dorfrat ein ehrenvolles Begräbnis für seinen Lehrmeister und verbrannte über seinem Grabe als Opfer eine ganze Last von edlen und köstlichen Heilkräutern und Wurzeln. Auch dies war längst vergangen, und unter Knechts Kindern, deren schon mehrere die Hütte Adas eng machten, gab es einen Knaben namens Turu: in seiner Gestalt war der Alte von der Todesfahrt zum Monde wiedergekehrt.
Es erging Knecht, wie es vorzeiten seinem Lehrer ergangen war. Ein Teil seiner Angst ward zu Frömmigkeit und zu Geist. Ein Teil seines jugendlichen Strebens und seiner tiefen Sehnsucht blieb lebendig, ein Teil starb dahin und verlor sich im Älterwerden in der Arbeit, in der Liebe und Sorge für Ada und die Kinder. Immer galt seine größte Liebe und angelegentlichste Forschung dem Monde und seinem Einfluß auf die Jahreszeiten und Witterungen; hierin erreichte er seinen Meister Turu und übertraf ihn am Ende. Und weil das Wachsen des Mondes und sein Schwinden so eng mit dem Sterben und Geborenwerden der Menschen zusammenhing, und weil von allen den Ängsten, in welchen die Menschen leben, die Angst vor dem Sterbenmüssen die tiefste ist, darum gewann der Mondverehrer und Mondkenner Knecht aus seinem nahen und lebendigen Verhältnis zum Monde auch ein geweihtes und geläutertes Verhältnis zum Tode; er war in seinen reiferen Jahren der Todesfurcht weniger untertan als andere Menschen. Er konnte ehrerbietig mit dem Monde reden, oder flehend, oder zärtlich, er wußte sich ihm verbunden in zarten geistigen Beziehungen, er kannte des Mondes Leben sehr genau und nahm an dessen Vorgängen und Schicksalen innigen Anteil, er lebte sein Hinschwinden und sein Neuwerden wie ein Mysterium in sich mit, und er litt mit ihm und erschrak, wenn das Ungeheure eintrat und der Mond Erkrankungen und Gefahren, Wandlungen und Schädigungen ausgesetzt schien, wenn er den Glanz verlor, die Farbe änderte, sich bis nahe ans Erlöschen verdunkelte. In solchen Zeiten freilich nahm jedermann am Monde teil, zitterte um ihn, erkannte Drohung und Unheilsnähe in seiner Verfinsterung und starrte angstvoll in sein altes, krankgewordenes Gesicht. Aber gerade dann zeigte sich, daß der Regenmacher Knecht dem Monde inniger verbunden war und mehr von ihm wußte als andre; wohl litt er dessen Schicksal mit, wohl war ihm eng und bange um das Herz, aber seine Erinnerung an ähnliche Erlebnisse war schärfer und gepflegter, sein Vertrauen gegründeter, sein Glaube an die Ewigkeit und Wiederkunft, an die Korrektur und Oberwindbarkeit des Todes war größer; und größer war auch der Grad seiner Hingabe; er fühlte sich in solchen Stunden bereit, das Schicksal des Gestirns bis zum Untergang und bis zur Neugeburt mitzuerleben, ja er fühlte dann zuweilen sogar etwas wie Frechheit, etwas wie den verwegenen Mut und Entschluß, dem Tode durch den Geist zu trotzen, sein Ich durch die Hingabe an übermenschliche Geschicke zu stärken. Etwas davon ging in sein Wesen über und ward auch den andern spürbar; er galt für einen Wissenden und Frommen, für einen Mann von großer Ruhe und geringer Todesfurcht, für einen, der mit den Mächten gut stand.
Er hatte diese Gaben und Tugenden in manchen harten Proben zu bewähren. Einmal hatte er eine Periode von Mißwachs und feindseliger Witterung zu bestehen, die sich über zwei Jahre ausdehnte, es war die größte Prüfung seines Lebens. Da hatten die Widrigkeiten und bösen Anzeichen schon bei der wiederholt verschobenen Aussaat begonnen, und dann hatte jeder erdenkliche Unstern und Schaden die Saaten betroffen und endlich so gut wie ganz vernichtet; die Gemeinde hatte grausam gehungert und Knecht mit ihr, und daß er dieses bittre Jahr überstand, daß er, der Regenmacher, nicht jeglichen Glauben und Einfluß verlor und dem Stamm helfen konnte, das Unglück mit Demut und einiger Fassung zu ertragen, war schon sehr viel gewesen. Als nun gar das folgende Jahr, nach einem harten und an Todesfällen reichen Winter, all das Ungemach und Elend des vorigen wiederholte, als das Gemeindeland im Sommer unter einer hartnäckigen Trockenheit verdorrte und barst, die Mäuse sich grausig vermehrten, als die einsamen Beschwörungen und Opferhandlungen des Regenmachers ebenso unerhört und ergebnislos blieben wie die öffentlichen Veranstaltungen, die Trommelchöre, die Bittgänge der ganzen Gemeinde, als es sich grausam zeigte, der Regenmacher könne diesmal keinen Regen machen, da war es keine kleine Sache und brauchte mehr als einen gewöhnlichen Mann, die Verantwortung zu tragen und sich gegen das erschreckte und aufgewühlte Volk aufrecht zu halten. Es gab da zwei oder drei Wochen, in denen Knecht ganz und gar allein stand, und ihm gegenüber stand die ganze Gemeinde, stand der Hunger und die Verzweiflung, stand der alte Volksglaube, nur die Opferung des Wettermachers könne die Mächte wieder versöhnen. Er hatte durch Nachgeben gesiegt. Er hatte dem Opfergedanken keinen Widerstand entgegengesetzt, er hatte sich selber als Opfer angeboten. Außerdem hatte er mit unerhörter Mühe und Hingabe an der Linderung der Not mitgearbeitet, hatte immer wieder Wasser entdeckt, eine Quelle, ein Rinnsal erspürt, hatte verhindert, daß in der höchsten Not der gesamte Viehstand vernichtet wurde, und namentlich hatte er die damalige Altmutter des Dorfes, die von einer verhängnisvollen Verzweiflung und Seelenschwäche ergriffene Ahnfrau, in dieser drangvollen Zeit durch Beistand, Rat, Drohung, durch Zauber und Gebet, durch Vorbild und durch Einschüchterung davor bewahrt, zusammenzubrechen und alles vernunftlos treiben zu lassen. Es hatte sich damals gezeigt, daß in Zeiten der Beunruhigung und der allgemeinen Sorge ein Mann desto brauchbarer ist, je mehr er sein Leben und Denken auf Geistiges und Überpersönliches gerichtet, je mehr er verehren, beobachten, anbeten, dienen und opfern gelernt hat. Die beiden furchtbaren Jahre, die ihn beinahe zum Opfer gemacht und vernichtet hätten, hinterließen ihm schließlich hohes Ansehen und Vertrauen, nicht zwar bei der Menge der Unverantwortlichen, wohl aber bei den wenigen, die Verantwortung trugen und einen Mann von seiner Art zu beurteilen vermochten.