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Erstarrten Herzens, mit flimmernden Augen stand Knecht, den Kopf in den Nacken gedrückt, entsetzten und doch unersättlichen Blicks in den verwandelten und verwunschenen Himmel schauend, seinen Augen mißtrauend und doch des Schrecklichen nur allzu gewiß. Wie alle, denen dieser nächtliche Anblick geworden war, glaubte er die wohlbekannten Sterne selbst wanken, dahinstieben und hinabstürzen zu sehen und erwartete das Gewölbe, falls nicht vorher die Erde ihn verschlänge, in Bälde schwarz und ausgeleert zu sehen. Nach einer Weile freilich erkannte er, was andere zu erkennen nicht fähig waren, daß die wohlbekannten Sterne hier und dort und überall noch vorhanden waren, daß das Sterngestiebe nicht unter den alten, vertrauten Sternen ein schreckliches Wesen trieb, sondern im Zwischenraum zwischen Erdboden und Himmel, und daß diese fallenden oder geworfenen, neuen, so schnell erscheinenden und so schnell schwindenden Lichter in einem etwas anders gefärbten Feuer glühten als die alten, die richtigen Sterne. Dies war ihm tröstlich und half ihm sich wiederfinden, aber mochten das nun auch neue, vergängliche, andre Sterne sein, deren Gestöber die Luft erfüllte: grausig und böse, Unheil und Unordnung war es doch, tiefe Seufzer aus Knechts vertrockneter Kehle. Er blickte erdwärts, er horchte umher, um zu erfahren, ob ihm allein dies geisterhafte Schauspiel erscheine oder ob auch andre es sähen. Bald hörte er von anderen Hütten her Stöhnen, Kreischen und Ausrufe des Schreckens; auch andre hatten es gesehen, hatten es weitergeschrien, hatten die Ahnungslosen und die Schläfer alarmiert, im Nu würde Angst und Panik das ganze Dorf ergriffen haben. Tief aufseufzend nahm es Knecht auf sich. Ihn vor allen andern traf es, dies Unglück, ihn, den Regenmacher; ihn, der gewissermaßen verantwortlich war für die Ordnung am Himmel und in den Lüften. Noch immer hatte er große Katastrophen voraus erkannt oder gespürt: Überschwemmung, Hagel, große Stürme, hatte jedesmal die Mütter und Ältesten vorbereitet und gewarnt, hatte das Ärgste verhütet, hatte sich, sein Wissen und seinen Mut und sein Vertrauen zu den oberen Mächten zwischen das Dorf und die Verzweiflung gestellt. Warum hatte er diesmal nichts vorausgewußt und angeordnet? Warum hatte er von dem dunkeln, warnenden Vorgefühl, das er allerdings gehabt, keinem Menschen ein Wort gesagt?

Er lüpfte die Matte des Hütteneingangs und rief leise den Namen seiner Frau. Sie kam, ihr Jüngstes an der Brust, er nahm ihr das Kleine ab und legte es auf die Streu, er nahm Adas Hand, legte einen Finger auf die Lippen, Schweigen fordernd, führte sie aus der Hütte und sah, wie alsbald ihr geduldig stilles Gesicht von Angst und Schrecken entstellt wurde.

»Die Kinder sollen schlafen, sie sollen das nicht sehen, hörst du?« flüsterte er heftig. »Du darfst keines herauslassen, auch Turu nicht. Und auch du selber bleibst drinnen.«

Er zögerte, ungewiß, wieviel er sagen, wieviel von seinen Gedanken er verraten solle, und fügte dann mit Festigkeit hinzu: »Es wird dir und den Kindern nichts geschehen.«

Sie glaubte es ihm alsbald, obwohl damit ihr Gesicht und Gemüt noch nicht wieder vom erlittenen Schrecken genesen war.

»Was ist es denn?« fragte sie, wieder an ihm vorbei in den Himmel starrend. »Ist es sehr schlimm?«

»Es ist schlimm,« sagte er sanft, »ich glaube wohl, daß es sehr schlimm ist. Aber es gilt nicht dir und den Kleinen. Bleibet in der Hütte, halte die Matte gut geschlossen. Ich muß zu den Leuten, mit ihnen reden. Geh hinein, Ada.«

Er drängte sie durch das Hüttenloch, zog die Matte sorgfältig zu, stand noch einige Atemzüge lang, das Gesicht dem fortdauernden Sternregen zugewandt, dann senkte er den Kopf, seufzte nochmals aus schwerem Herzen und ging nun schnell dorfeinwärts durch die Nacht, zur Hütte der Ahnmutter.

Hier war das halbe Dorf schon versammelt, in einem gedämpften Getöse, einem durch die Angst gelähmten und halb unterdrückten Taumel von Schrecken und Verzweiflung. Es gab Weiber und Männer, welche sich dem Gefühl von Entsetzen und Untergangsnähe mit einer Art von Wut und Wollust hingaben, die wie Verzückte steif standen oder mit unbeherrschten Gliedern um sich fuchtelten, eine hatte Schaum vor dem Munde, tanzte für sich allein einen verzweifelten und zugleich obszönen Tanz und riß sich dabei die langen Haare in ganzen Büscheln aus. Knecht sah: es war alles schon im Gange, sie waren schon beinahe alle an den Rausch verloren, von den fallenden Sternen behext und verrückt gemacht, es würde vielleicht eine Orgie von Irrsinn, Wut und Selbstvernichtungslust geben, es war höchste Zeit, die paar Mutigen und Besonnenen zu sammeln und zu stärken. Die uralte Ahnmutter war ruhig; sie glaubte das Ende aller Dinge gekommen, wehrte sich aber nicht dagegen und zeigte dem Schicksal ein festes, hartes, in seiner herben Gekniffenheit beinah spöttisch aussehendes Gesicht. Er brachte sie dazu, ihn anzuhören. Er versuchte ihr zu demonstrieren, daß die alten, die immer dagewesenen Sterne noch vorhanden seien, doch vermochte sie das nicht aufzunehmen, sei es, daß ihre Augen die Kraft nicht mehr hatten, es zu erkennen, sei es, daß ihre Vorstellung von den Sternen und ihr Verhältnis zu ihnen von denen des Regenmachers allzu verschieden waren, als daß man einander hätte verstehen können. Sie schüttelte den Kopf und behielt ihr tapferes Grinsen bei, und als Knecht sie nun beschwor, die Leute in ihrem Angstrausch nicht sich selber und den Dämonen zu überlassen, war sie sogleich einverstanden. Es bildete sich um sie und den Wettermacher eine kleine Gruppe von geängstigten, aber nicht verrückt gewordenen Menschen, die bereit waren, sich führen zu lassen.

Noch im Augenblick vor seinem Eintreffen hatte Knecht gehofft, der Panik durch Vorbild, Vernunft, Rede, Erklärung und Zuspruch steuern zu können. Schon das kurze Gespräch mit der Ahnfrau belehrte ihn, daß es dafür zu spät sei. Er hatte gehofft, die andern an seinem eignen Erlebnis teilhaben lassen, es ihnen zum Geschenk machen und auf sie übertragen zu können, er hatte gehofft, unter seinem Zuspruch würden sie vor allem einsehen, daß nicht die Sterne selber, oder doch nicht alle, herunterfielen und vom Weltsturm davongetragen würden, und damit, daß sie vom hilflosen Schrecken und Staunen zum tätigen Beobachten fortschritten, würden sie der Erschütterung standhalten können. Aber es wären, das sah er schnell, im ganzen Dorf nur sehr wenige dieser Beeinflussung zugänglich gewesen, und bis man auch nur sie gewonnen hätte, wären die andern vollends ganz dem Irrsinn verfallen. Nein, es war hier, wie so oft, mit der Vernunft und den klugen Worten gar nichts zu erreichen. Zum Glück gab es andre Mittel. Wenn es unmöglich war, die Todesangst aufzulösen, indem man sie mit Vernunft durchsetzte, so war es doch möglich, die Todesangst zu leiten, zu organisieren, ihr Form und Gesicht zu geben und aus dem hoffnungslosen Durcheinander von Tollgewordenen eine feste Einheit, aus den unbeherrschten wilden Einzelstimmen einen Chor zu machen. Alsbald setzte es Knecht ins Werk, alsbald schlug das Mittel an. Er trat vor die Leute, schrie die wohlbekannten Gebetsworte, mit welchen sonst die öffentlichen Trauer- und Bußübungen eröffnet wurden, die Totenklage um eine Ahnfrau oder das Opfer- und Bußfest bei öffentlichen Gefahren wie Seuchen und Überschwemmung. Er schrie die Worte im Takt und unterstützte den Takt durch Händeklatschen, und im selben Takt, schreiend und händeklatschend, bückte er sich bis fast zum Erdboden, erhob sich wieder, bückte sich wieder, erhob sich, und schon machten zehn und zwanzig andere die Bewegungen mit, die greise Dorfmutter stand, murmelte rhythmisch und deutete mit kleinen Verneigungen die rituellen Bewegungen an. Wer noch von den anderen Hütten her sich einfand, ordnete sich ohne weiteres in den Takt und Geist der Zeremonie ein, die paar ganz Besessenen brachen entweder bald mit erschöpften Kräften zusammen und lagen regungslos, oder sie wurden vom Chorgemurmel und Verneigungsrhythmus der gottesdienstlichen Handlung bezwungen und mitgerissen. Es war gelungen. Statt einer verzweifelten Horde von Verrückten stand da ein Volk von Opfer- und bußgewillten Andächtigen, deren jedem es wohltat und das Herz stärkte, seine Todesfurcht und sein Entsetzen nicht in sich zu verschließen oder für sich allein hinauszubrüllen, sondern im geordneten Chor der vielen, taktmäßig, sich einer beschwörenden Zeremonie einzuordnen. Viele geheime Mächte sind in einer solchen Übung wirksam, ihr stärkster Trost ist die Gleichförmigkeit, das Gemeinschaftsgefühl verdoppelnd, und ihre unfehlbarste Arznei ist Maß und Ordnung, ist Rhythmus und Musik.

Während noch immer der ganze Nachthimmel vom Heer der fallenden Sternschnuppen wie von einer lautlos stürzenden Kaskade aus Lichttropfen bedeckt war, welche wohl zwei Stunden lang weiter ihre großen rötlichen Feuertropfen verschwendete, verwandelte das Grauen des Dorfes sich in Ergebung und Devotion, in Anrufung und Bußgefühl, und den aus ihrer Ordnung geratenen Himmeln trat die Angst und Schwäche der Menschen als Ordnung und kultische Harmonie entgegen. Noch ehe der Sternenregen anfing zu ermüden und dünner zu strömen, war das Wunder vollzogen und strahlte Heilkraft aus, und als der Himmel langsam sich zu beruhigen und zu genesen schien, hatten die todmüden Büßer alle das erlösende Gefühl, mit ihrer Übung die Mächte besänftigt und den Himmel wieder in Ordnung gebracht zu haben.

Die Schreckensnacht wurde nicht vergessen, man sprach noch den ganzen Herbst und Winter hindurch von ihr, aber bald tat man es schon nicht mehr flüsternd und beschwörend, sondern im alltäglichen Ton und mit der Genugtuung, welche auf ein brav bestandenes Unheil, eine mit Erfolg bekämpfte Gefahr zurückblickt. Man erlabte sich an den Einzelheiten, jeder war auf seine Weise von dem Unerhörten überrascht worden, jeder wollte es als erster entdeckt haben, über einige besonders Furchtsame und Überwältigte wagte man sich lustig zu machen, und noch lange hielt eine gewisse Angeregtheit im Dorfe vor: man hatte etwas erlebt, Großes war geschehen, es war etwas los gewesen!

An dieser Stimmung und am allmählichen Abflauen und Vergessen des großen Ereignisses hatte Knecht keinen Teil. Für ihn blieb das unheimliche Erlebnis eine unvergeßliche Mahnung, ein nicht mehr zur Ruhe kommender Stachel, und für ihn war es dadurch, daß es vorübergegangen und durch Prozession, Gebet und Bußübung besänftigt worden war, keineswegs abgetan und abgewendet. Es gewann sogar, je länger es vergangen war, für ihn desto größere Bedeutung, denn er erfüllte es mit Sinn, er wurde an ihm vollends zum Grübler und Deuter. Für ihn war schon das Ereignis an sich, das wunderhafte Naturschauspiel, ein unendlich großes und schwieriges Problem mit vielen Perspektiven: einer, der dies gesehen hatte, konnte wohl ein Leben lang darüber nachsinnen. Nur ein einziger im Dorf hätte den Sternenregen mit ähnlichen Voraussetzungen und ähnlichen Augen wie er selbst betrachtet, sein eigener Sohn und Schüler Turu, nur dieses einen Zeugen Bestätigungen oder Korrekturen hätten Wert für Knecht gehabt. Aber diesen Sohn hatte er schlafen lassen, und je länger er darüber nachgrübelte, warum er das eigentlich getan, warum er bei dem unerhörten Geschehnis auf den einzigen ernst zu nehmenden Zeugen und Mitbeobachter verzichtet hatte, desto mehr verstärkte sich in ihm der Glaube, daß er da gut und richtig gehandelt und einer weisen Ahnung gehorcht habe. Er hatte die Seinen vor dem Anblick behüten wollen, auch seinen Lehrling und Kollegen, und sogar ihn ganz besonders, denn niemandem war er so zugetan wie ihm. Darum hatte er ihm den Sternenfall verheimlicht und unterschlagen, denn einmal glaubte er an die guten Geister des Schlafes, zumal des jugendlichen, und ferner hatte er, wenn die Erinnerung ihn nicht täuschte, eigentlich schon in jenem Augenblick, gleich nach dem Beginn der Himmelszeichen, weniger an eine augenblickliche Lebensgefahr für alle gedacht als an ein Vorzeichen und sich meldendes Unheil in der Zukunft, und zwar an eines, das keinen so nahe anging und betreffen würde wie ihn allein, den Wettermacher. Es war da etwas im Anzug, eine Gefahr und Bedrohung aus jener Sphäre her, mit welcher sein Amt ihn verband, und sie würde, in welcher Gestalt immer, vor allem und ausdrücklich ihm selber gelten. Sich dieser Gefahr wach und entschlossen entgegenzustellen, sich in der Seele auf sie vorzubereiten, sie hinzunehmen, aber sich nicht von ihr kleinmachen und entwürdigen zu lassen, das war die Mahnung und der Entschluß, welche er aus dem großen Vorzeichen zog. Es würde dies kommende Schicksal einen reifen und mutigen Mann erfordern, darum wäre es nicht gut gewesen, den Sohn mit hineinzuziehen, ihn als Mitleidenden oder nur als Mitwisser zu haben, denn so gut er von ihm dachte, war es doch ungewiß, ob ein junger und unerprobter Mensch ihm würde gewachsen sein.

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