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In der »großen« Amtsstube der Ordensleitung empfing man ihn etwas überrascht, es war kaum jemals vorgekommen, daß ein Magister hier unangemeldet oder uneingeladen erschien. Im Auftrag des Ordensleiters wurde er bewirtet, dann öffnete man ihm eine Ruhezelle im alten Kreuzgang und teilte ihm mit, der Ehrwürdige hoffe in zwei oder drei Stunden sich für ihn freimachen zu können. Er ließ sich ein Exemplar der Ordensregeln geben und ließ sich nieder, durchlas das ganze Heft und vergewisserte sich ein letztes Mal der Einfachheit und Legalität seines Vorhabens, dessen Sinn und innere Berechtigung mit Worten aufzuzeigen ihm dennoch auch in dieser Stunde noch eigentlich unmöglich schien. Er erinnerte sich eines Satzes in den Regeln, über welchen man ihn einst, in den letzten Tagen seiner Jugendfreiheit und Studienzeit, hatte meditieren lassen, es war im Augenblick vor seiner Aufnahme in den Orden gewesen. Er las den Satz nach, gab sich der Betrachtung hin und spürte dabei, ein wie ganz andrer er zur Stunde sei als der etwas ängstliche junge Repetent, der er damals gewesen war. »Beruft dich die hohe Behörde,« so hieß es an jener Stelle der Regel, »in ein Amt, so wisse: jeder Aufstieg in der Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür.« Wie hatte dies alles einst so endgültig und so eindeutig geklungen, und wie sehr hatte doch die Bedeutung mancher Worte, zumal so verfänglicher Worte wie »Bindung,« »Persönlichkeit,« »Willkür« sich seit damals für ihn gewandelt, ja umgekehrt! Und wie waren sie doch schön, klar, festgefügt und bewundernswert suggestiv, diese Sätze, wie konnten sie einem jungen Geiste absolut, zeitlos und durch und durch wahr erscheinen! Oh, und sie wären dies ja auch gewesen, wäre nur Kastalien die Welt, die ganze, mannigfaltige und doch unteilbare, statt daß es eben nur ein Weltchen in der Welt oder ein kühner und gewaltsamer Ausschnitt aus ihr war! Wäre die Erde eine Eliteschule, wäre der Orden die Gemeinschaft aller Menschen und der Ordensvorstand Gott, wie vollkommen wären dann jene Sätze und die ganze Regel! Ach, wäre es doch so gewesen, wie hold, wie blühend und unschuldig schön wäre das Leben! Und einst war es ja auch wirklich so gewesen, einst hatte er es so sehen und erleben können: den Orden und den kastalischen Geist als das Göttliche und Absolute, die Provinz als Welt, die Kastaller als Menschheit und den nichtkastalischen Teil des Ganzen als eine Art Kinderwelt, eine Vorstufe der Provinz, ein der letzten Kultur und Erlösung noch wartender Urboden, der zu Kastalien mit Ehrfurcht emporblickte und ihm je und je so liebenswürdige Besuche zusandte wie den jungen Plinio.

Wie eigentümlich stand es doch auch um ihn selbst, um Josef Knecht und seinen eigenen Geist! Hatte er nicht jene ihm eigene Art von Einsicht und Erkenntnis, jenes Erleben der Wirklichkeit, das er als Erwachen bezeichnete, in früheren Zeiten, ja gestern noch, als ein schrittweises Vordringen ins Herz der Welt, ins Zentrum der Wahrheit betrachtet, als etwas gewissermaßen Absolutes, als einen Weg oder ein Fortschreiten, das man zwar nur schrittweise vollziehen konnte, das aber in der Idee kontinuierlich und gradlinig war? War es ihm einst, in der Jugend, nicht als Erwachen, als Fortschritt, als unbedingt wertvoll und richtig erschienen, die Außenwelt zwar in der Gestalt Plinios anzuerkennen, sich aber bewußt und genau als Kastalier von ihr zu distanzieren? Und wieder war es ein Fortschritt und war Wahrhaftigkeit gewesen, als er nach jahrelangen Zweifeln sich für das Glasperlenspiel und das Waldzeller Leben entschied. Und wieder, als er sich von Meister Thomas in den Dienst einreihen und durch den Musikmeister in den Orden aufnehmen, und als er später sich zum Magister ernennen ließ. Es waren lauter kleine oder große Schritte auf einem scheinbar geradlinigen Wege gewesen – und doch stand er jetzt, am Ende dieses Weges, keineswegs im Herzen der Welt und im Innersten der Wahrheit, sondern auch das jetzige Erwachen war nur ein Augenaufschlagen und ein Sichwiederfinden in neuer Lage, ein Sicheinfügen in neue Konstellationen gewesen. Derselbe strenge, klare, eindeutige, gradlinige Pfad, der ihn nach Waldzell, nach Mariafels, in den Orden, in das Magisteramt geführt hatte, der führte ihn nun wieder hinaus. Was eine Folge von Akten des Erwachens gewesen, war zugleich eine Folge von Abschieden. Kastalien, das Glasperlenspiel, die Meisterwürde waren jedes ein Thema gewesen, welches abzuwandeln und zu erledigen, ein Raum, der zu durchschreiten, zu transzendieren gewesen war. Schon lagen sie hinter ihm. Und offenbar haue er einstmals, als er das Gegenteil von dem dachte und tat, was er heute dachte und tat, doch schon etwas von dem fragwürdigen Sachverhalt gewußt oder doch geahnt; hatte er nicht über jenes Gedicht, das er als Student geschrieben und das von den Stufen und den Abschieden handelte, den Ausruf »Transzendieren!« gesetzt? So war sein Weg denn im Kreise gegangen, oder in einer Ellipse oder Spirale, oder wie immer, nur nicht geradeaus, denn das Geradlinige gehörte offenbar nur der Geometrie, nicht der Natur und dem Leben an. Der Selbstermahnung und Selbstermutigung seines Gedichtes aber hatte er, auch nachdem er das Gedicht und sein damaliges Erwachen längst vergessen hatte, treulich Folge geleistet, nicht vollkommen zwar, nicht ohne Zögerungen, Zweifel, Anwandlungen und Kämpfe, aber durchschritten hatte er Stufe um Stufe, Raum nach Raum tapfer, gesammelt und leidlich heiter, nicht so strahlend wie der alte Musikmeister, doch ohne Müdigkeit und Trübung, ohne Abfall und Untreue. Und wenn er jetzt für kastalische Begriffe Abfall und Untreue beging, wenn er, aller Ordensmoral entgegen, scheinbar im Dienst der eigenen Persönlichkeit, also in Willkür handelte, so würde auch dies im Geiste der Tapferkeit und der Musik geschehen, taktfest also und heiter, gehe es im übrigen wie es möge. Hätte er doch, was ihm selber so klar schien, auch den andern klarmachen und beweisen können: daß nämlich die »Willkür« seines jetzigen Handelns in Wahrheit Dienst und Gehorsam war, daß er nicht einer Freiheit, sondern neuen, unbekannten und unheimlichen Bindungen entgegenging, nicht ein Flüchtling, sondern ein Gerufener, nicht eigenwillig, sondern gehorchend, nicht Herr, sondern Opfer! Und wie stand es dann mit den Tugenden, mit der Heiterkeit, dem Takthalten, der Tapferkeit? Sie wurden klein, aber sie blieben bestehen. Wenn es schon kein Gehen, sondern nur ein Geführtwerden, wenn es schon kein eigenmächtiges Transzendieren gab, sondern nur ein Sichdrehen des Raumes um den in seiner Mitte Stehenden, so bestanden die Tugenden dennoch und behielten ihren Wert und ihren Zauber, sie bestanden im Jasagen, statt Verneinen, im Gehorchen, statt Ausweichen und vielleicht ein wenig auch darin, daß man so handelte und dachte, als sei man Herr und aktiv, daß man das Leben und die Selbsttäuschung, diese Spiegelung mit dem Anschein von Selbstbestimmung und Verantwortung, ungeprüft hinnahm, daß man aus unbekannten Ursachen eben doch im Grunde mehr zum Tun als zum Erkennen, mehr triebhaft als geistig geschaffen war. Oh, hierüber ein Gespräch mit Pater Jakobus haben zu können!

Gedanken oder Träumereien ähnlicher Art waren der Nachklang seiner Meditation. Es ging, so schien es, beim »Erwachen« nicht um die Wahrheit und die Erkenntnis, sondern um die Wirklichkeit und deren Erleben und Bestehen. Im Erwachen drang man nicht näher an den Kern der Dinge, an die Wahrheit heran, man erfaßte, vollzog oder erlitt dabei nur die Einstellung des eigenen Ich zur augenblicklichen Lage der Dinge. Man fand nicht Gesetze dabei, sondern Entschlüsse, man geriet nicht in den Mittelpunkt der Welt, aber in den Mittelpunkt der eigenen Person. Darum war auch das, was man dabei erlebte, so wenig mitteilbar, so merkwürdig dem Sagen und Formulieren entrückt; Mitteilungen aus diesem Bereich des Lebens schienen nicht zu den Zwecken der Sprache zu zählen. Wurde man ausnahmsweise dabei einmal ein Stück weit verstanden, dann war der Verstehende ein Mann in ähnlicher Lage, ein Mitleidender oder Miterwachender. Ein Stückchen weit hatte Fritz Tegularius ihn gelegentlich verstanden, noch weiter hatte Plinios Verständnis gereicht. Wen konnte er sonst noch nennen? Niemand.

Es fing schon an zu dämmern, und er war in seinem Gedankenspiel völlig entrückt und eingesponnen, als man an die Türe pochte. Da er nicht gleich wach war und antwortete, wartete der Draußenstehende ein wenig und versuchte es dann abermals mit leisem Klopfen. Jetzt gab Knecht Antwort, erhob sich und ging mit dem Boten, der ihn ins Kanzleigebäude und ohne weitere Anmeldung in das Arbeitszimmer des Vorstands führte. Meister Alexander kam ihm entgegen.

»Schade,« sagte er, »daß Ihr unangemeldet kommet; so habet Ihr warten müssen. Ich bin voll Erwartung, zu erfahren, was Euch so plötzlich hergeführt hat. Es ist doch nichts Schlimmes?«

Knecht lachte. »Nein, nichts Schlimmes. Aber komme ich wirklich so ganz unerwartet, und könnet Ihr Euch gar nicht denken, was es sei, das mich hertreibt?«

Alexander blickte ihm ernst und mit Besorgnis in die Augen. »Nun ja,« sagte er, »denken kann ich mir dies und jenes. Ich dachte mir zum Beispiel schon dieser Tage, daß die Angelegenheit Eures Rundschreibens gewiß für Euch noch nicht erledigt sei. Die Behörde mußte es etwas knapp beantworten und in einem für Euch, Domine, vielleicht enttäuschenden Sinn und Ton.«

»Nein,« meinte Josef Knecht, »im Grunde hatte ich kaum etwas anderes erwartet, als was die Antwort der Behörde dem Sinn nach enthält. Und was den Ton betrifft, gerade der Ton tat mir wohl. Ich merkte dem Schreiben an, daß es seinem Verfasser Mühe gemacht, ja beinahe Kummer gemacht und daß er das Bedürfnis gefühlt habe, der für mich unangenehmen und etwas beschämenden Antwort einige Tropfen Honig beizumischen, und das ist ihm ja vortrefflich gelungen, ich bin ihm dafür dankbar.«

»Und den Inhalt des Schreibens habet Ihr also, Verehrter, angenommen?«

»Zur Kenntnis genommen, ja, und im Grunde auch verstanden und gebilligt. Die Antwort konnte wohl nichts andres bringen als eine Abweisung meines Gesuches, verbunden mit einer sanften Vermahnung. Mein Rundschreiben war etwas Ungewohntes und für die Behörde recht Unbequemes, darüber war ich nie im Zweifel. Es war aber außerdem, insofern es ein persönliches Gesuch enthielt, vermutlich nicht sehr zweckmäßig abgefaßt. Ich konnte kaum eine andre als eine abschlägige Antwort erwarten.«

»Es ist uns lieb,« sagte der Vorstand der Ordensleitung mit einem Hauch von Schärfe, »daß Ihr es so ansehet und daß unser Schreiben Euch also nicht etwa in einem schmerzlichen Sinn hat überraschen können. Sehr lieb ist uns das. Aber noch verstehe ich eines nicht. Wenn Ihr beim Abfassen und Absenden Eures Schreibens – ich verstehe Euch doch richtig? – schon an einen Erfolg und eine bejahende Antwort nicht geglaubt habet, ja im voraus vom Mißerfolg überzeugt wäret, warum habt Ihr dann Euer Rundschreiben, das doch immerhin auch eine große Arbeit bedeutete, zu Ende und ins Reine geschrieben und abgesandt?«

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