Knecht sah ihn freundlich an, als er Antwort gab:
»Herr Vorstand, mein Schreiben hatte zwei Inhalte, zwei Absichten, und ich glaube nicht, daß sie alle beide so völlig ergebnis- und erfolglos geblieben sind. Es enthielt eine persönliche Bitte, um Amtsenthebung und Verwendung meiner Person an anderem Orte; diese persönliche Bitte durfte ich als etwas verhältnismäßig Nebensächliches betrachten, jeder Magister soll ja seine persönlichen Angelegenheiten möglichst zurückstellen. Die Bitte wurde abgeschlagen, damit hatte ich mich abzufinden. Aber mein Rundschreiben enthielt ja noch sehr viel anderes als jene Bitte, es enthielt eine Menge von Tatsachen, teils Gedanken, die ich zur Kenntnis der Behörde zu bringen und ihrer Beachtung zu empfehlen für meine Pflicht hielt. Es haben alle Magister, oder es hat doch die Mehrzahl der Magister meine Darlegungen, um nicht zu sagen Mahnungen, gelesen, und wenn auch gewiß die meisten von ihnen diese Speise nur ungern zu sich nahmen und eher unwillig reagierten, so haben sie eben doch gelesen und in sich eingelassen, was ich ihnen glaubte sagen zu müssen. Daß sie das Schreiben nicht mit Beifall aufnahmen, ist in meinen Augen kein Mißerfolg, ich suchte ja nicht Beifall und Zustimmung, ich bezweckte vielmehr Beunruhigung und Aufrüttelung. Ich würde es sehr bereuen, wenn ich aus den von Euch genannten Gründen auf die Absendung meiner Arbeit verzichtet hätte. Ob sie nun viel oder wenig wirkte, ein Weckruf, eine Anrufung ist sie doch gewesen.«
»Gewiß,« sagte zögernd der Vorstand, »doch wird mir dadurch das Rätsel nicht gelöst. Wenn Ihr Mahnungen, Weckrufe, Warnungen an die Behörde gelangen lassen wolltet, warum habt Ihr Eure goldenen Worte in ihrer Wirkung dadurch abgeschwächt oder doch gefährdet, daß Ihr sie mit einer privaten Bitte verbandet, einer Bitte zudem, an deren Erfüllung und Erfüllbarkeit Ihr selbst nicht recht geglaubt habet? Ich verstehe das einstweilen noch nicht. Aber es wird sich ja wohl klären, wenn wir das Ganze durchsprechen. Jedenfalls liegt dort der schwache Punkt Eures Rundschreibens, in der Verbindung des Weckrufs mit dem Gesuch, des Mahnens mit dem Bitten. Ihr wäret doch, sollte man meinen, nicht darauf angewiesen, das Gesuch als Vehikel für die Mahnrede zu benützen. Ihr konntet mündlich oder schriftlich Eure Kollegen leicht genug erreichen, wenn Ihr sie eines Aufrütteins für bedürftig hieltet. Und das Gesuch wäre seinen eigenen Amtsweg gegangen.«
Freundschaftlich blickte Knecht ihn an. »Ja,« sagte er leichthin, »es mag sein, daß Ihr recht habet. Obgleich – seht Euch die verzwickte Sache doch noch einmal an! Es handelt sich weder bei der Mahnrede noch bei dem Gesuch um etwas Alltägliches, Gewohntes und Normales, sondern beide gehörten schon dadurch zusammen, daß sie ungewöhnlich und aus Not entstanden waren und sich außerhalb der Konvention stellten. Es ist weder üblich und normal, daß ohne dringenden äußern Anlaß ein Mensch seine Kollegen plötzlich beschwört, sich ihrer Sterblichkeit und der Fragwürdigkeit ihrer ganzen Existenz zu erinnern, noch auch ist es üblich und alltäglich, daß ein kastalischer Magister sich um einen Schullehrerposten außerhalb der Provinz bewirbt. Insofern passen die beiden Inhalte meines Schreibens recht wohl zusammen. Für einen Leser, der das ganze Schreiben wirklich ernst genommen hätte, hätte sich nach meiner Meinung als Resultat der Lektüre ergeben müssen: daß hier nicht nur ein etwas schrulliger Mann seine Ahnungen verkündigt und seine Kollegen anzupredigen unternimmt, sondern daß es diesem Manne mit seinen Gedanken und seiner Not bitterer Ernst ist, daß er bereit ist, sein Amt, seine Würde, seine Vergangenheit wegzuwerfen und an bescheidenster Stelle von vorn anzufangen, daß er der Würde, des Friedens, der Ehre und Autorität satt ist und sie loszuwerden und wegzuwerfen begehrt. Aus diesem Ergebnis – ich versuche noch immer, mich in die Leser meines Schriftstückes hineinzudenken – wären dann, scheint mir, zwei Schlüsse möglich gewesen: der Schreiber dieser Moralpredigt sei leider etwas verrückt, komme also als Magister ohnehin nicht mehr in Betracht – oder aber; da der Schreiber dieser lästigen Predigt sichtlich nicht verrückt, sondern normal und gesund sei, müsse hinter seinen Predigten und Pessimismen mehr stecken als Laune und Schrulle, nämlich eine Wirklichkeit, eine Wahrheit. So etwa hatte ich mir den Vorgang in den Köpfen der Leser gedacht und muß zugeben, daß ich mich dabei verrechnet habe. Statt daß mein Gesuch und mein Weckruf einander gestützt und verstärkt haben, sind alle beide nicht ernst genommen und beiseite gelegt worden. Ich bin über diese Ablehnung weder sehr betrübt noch eigentlich überrascht, denn im Grunde, das muß ich wiederholen, hatte ich sie trotz allem erwartet, und im Grunde, es sei zugegeben, hatte ich die Ablehnung auch verdient. Mein Gesuch nämlich, an dessen Erfolg ich nicht glaubte, war eine Art Finte, war eine Gebärde, eine Formel.«
Meister Alexanders Gesicht war noch ernster und beinahe finster geworden. Doch unterbrach er den Magister nicht.
»Es stand mit mir nicht so,« fuhr dieser fort, »daß ich beim Absenden meines Gesuches eine günstige Antwort ernstlich erhofft und mich auf sie gefreut hätte, aber auch nicht so, daß ich bereit gewesen wäre, eine ablehnende Antwort als höhere Entscheidung gehorsam hinzunehmen.«
»– nicht bereit, die Antwort Eurer Behörde als höhere Entscheidung hinzunehmen – habe ich recht gehört, Magister?« unterbrach ihn der Vorstand, jedes Wort scharf betonend. Offenbar hatte er jetzt den vollen Ernst der Lage erkannt.
Knecht verneigte sich leicht. »Gewiß, Ihr habet recht gehört. Es war so, daß ich an eine Aussicht auf Erfolg meines Gesuches kaum glauben konnte, das Gesuch aber doch vortragen zu müssen meinte, um der Ordnung und Form zu genügen. Ich gab damit der verehrten Behörde gewissermaßen eine Möglichkeit in die Hand, die Sache glimpflich abzutun. Sollte sie zu dieser Lösung nicht neigen, nun so war ich allerdings schon damals entschlossen, mich nicht hinhalten und beruhigen zu lassen, sondern zu handeln.«
»Und wie zu handeln?« fragte Alexander mit leiser Stimme.
»So, wie es mir Herz und Vernunft vorschreiben. Ich war entschlossen, mein Amt niederzulegen und eine Tätigkeit außerhalb Kastaliens auch ohne Auftrag oder Urlaub von der Behörde anzutreten.«
Der Ordensleiter schloß die Augen und schien nicht mehr zuzuhören, Knecht erkannte, daß er jene Notübung vollziehe, mit deren Hilfe die Ordensleute in Fällen von plötzlicher Gefahr und Bedrohung sich der Selbstbeherrschung und inneren Ruhe zu versichern suchen und die mit zweimaligem sehr langem Anhalten des Atems bei leerer Lunge verbunden ist. Er sah das Gesicht des Mannes, an dessen widerwärtiger Lage er sich schuldig wußte, ein wenig erbleichen, dann im langsamen, mit den Bauchmuskeln beginnenden Einatmen wieder seine Farbe gewinnen, sah die sich wieder öffnenden Augen des von ihm so hochgeschätzten, ja geliebten Mannes einen Moment starr und verloren blicken, alsbald aber erwachen und sich erkräftigen; mit einem leisen Schrecken sah er diese klaren, beherrschten, stets in Zucht gehaltenen Augen eines Mannes, der gleich groß im Gehorchen wie im Befehlen war, sich nun auf ihn richten und ihn mit gefaßter Kühle betrachten, ihn mustern, ihn richten. Lange mußte er diesen Blick schweigend ertragen.
»Ich glaube Euch nun verstanden zu haben,« sagte Alexander endlich mit ruhiger Stimme. »Ihr wäret schon seit längerer Zeit amtsmüde oder kastalienmüde oder von Verlangen nach dem Weltleben geplagt. Ihr habet Euch entschlossen, dieser Stimmung mehr zu gehorchen als den Gesetzen und Euren Pflichten, Ihr habet auch nicht das Bedürfnis empfunden, Euch uns anzuvertrauen und beim Orden Rat und Beistand zu suchen. Um einer Form zu genügen und Euer Gewissen zu entlasten, habt Ihr dann also jenes Gesuch an uns gerichtet, ein Gesuch, von dem Ihr wußtet, daß es für uns unannehmbar sei, auf das Ihr Euch aber, wenn die Sache zur Aussprache käme, berufen könntet. Nehmen wir an, Ihr habet für Euer so ungewöhnliches Verhalten Gründe gehabt und Eure Absichten seien ehrliche und achtenswerte gewesen, wie ich es mir gar nicht anders vorstellen kann. Aber wie war es möglich, daß Ihr mit solchen Gedanken, Begierden und Entschlüssen im Herzen, innerlich schon ein Fahnenflüchtiger, so lange Zeit schweigend in Eurem Amt verbleiben und es anscheinend fehlerlos weiterführen konntet?«
»Ich bin hier,« sagte der Glasperlenspielmeister mit unveränderter Freundlichkeit, »um mit Euch dies alles durchzusprechen, Euch jede Frage zu beantworten, und ich habe mir, da ich nun einmal einen Weg des Eigensinns beschritten habe, vorgenommen, Hirsland und Euer Haus nicht eher zu verlassen, als bis ich mich, meine Lage und mein Tun von Euch einigermaßen verstanden weiß.«
Meister Alexander besann sich. »Soll das bedeuten, daß Ihr erwartet, ich werde Euer Verhalten und Eure Pläne jemals billigen?« fragte er dann zögernd.
»Ach, an Billigen will ich gar nicht denken. Ich hoffe und erwarte, von Euch verstanden zu sein und einen Rest Eurer Achtung zu behalten, wenn ich hier fortgehe. Es ist der einzige Abschied in unsrer Provinz, den ich noch zu nehmen habe. Waldzell und das Spielerdorf habe ich heut für immer verlassen.«
Wieder schloß Alexander für einige Sekunden die Augen. Die Mitteilungen dieses Unbegreiflichen kamen gar so bestürzend.
»Für immer?« sagte er. »Ihr denket also gar nicht mehr auf Euren Posten zurückzukehren? Ich muß sagen, Ihr versteht Euch auf das Überraschen. Eine Frage, wenn es erlaubt ist: betrachtet Ihr Euch nun eigentlich noch als Glasperlenspielmeister oder nicht?«
Josef Knecht griff nach dem Kästchen, das er mitgebracht hatte.
»Ich war es bis gestern,« sagte er, »und denke heute davon befreit zu sein, indem ich Euch zu Händen der Behörde die Siegel und Schlüssel zurückgebe. Sie sind intakt, und auch im Spielerdorf werdet Ihr Ordnung vorfinden, wenn Ihr dort nachsehen gehet.«
Langsam erhob sich nun der Ordensvorstand vom Stuhl, er sah ermüdet und wie plötzlich gealtert aus.
»Wir wollen Euer Kästchen für heute hier stehenlassen,« sagte er trocken. »Wenn das Entgegennehmen der Siegel zugleich den Vollzug Eurer Amtsentlassung bedeuten soll, so bin ich ohnehin nicht kompetent, es müßte mindestens ein Drittel der Gesamtbehörde dabei zugegen sein. Ihr hattet früher so viel Sinn für die alten Gebräuche und Formen, ich kann mich in diese neue Art nicht so schnell finden. Vielleicht habt Ihr die Freundlichkeit, mir bis morgen Zeit zu lassen, ehe wir weiterreden?«
»Ich stehe vollkommen zu Eurer Verfügung, Verehrter. Ihr kennet mich und meinen Respekt vor Euch nun schon manche Jahre; glaubet mir, daß sich daran nichts geändert hat. Ihr seid die einzige Person, von der ich Abschied nehme, ehe ich die Provinz verlasse, und dies gilt nicht nur Eurem Amt als Vorstand der Ordensleitung. Wie ich die Siegel und Schlüssel in Eure Hände zurückgelegt habe, so hoffe ich von Euch, Domine, wenn wir uns erst vollends ausgesprochen haben, auch meines Gelübdes als Mitglied des Ordens entbunden zu werden.«