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Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Noch an diesem Abend beschied er seinen Stellvertreter zu sich und eröffnete ihm, daß er morgen für unbestimmte Zeit verreisen müsse. Er übergab ihm alles Laufende mit kurzen Anweisungen und verabschiedete sich freundlich und sachlich wie sonst vor einer kurzen Amtsreise.

Daß er den Freund Tegularius verlassen müsse, ohne ihn einzuweihen und ihn mit einem Abschiednehmen zu belasten, war ihm schon früher klargeworden. Er mußte so handeln, nicht nur um den so empfindlichen Freund zu schonen, sondern auch um seinen ganzen Plan nicht zu gefährden. Mit einer vollzogenen Handlung und Tatsache würde sich der andre vermutlich schon abfinden, während eine überraschende Aussprache und Abschiedsszene ihn zu unliebsamen Unbeherrschtheiten hinreißen konnte. Knecht hatte eine Weile sogar daran gedacht, abzureisen, ohne ihn überhaupt noch einmal zu sehen. Nun er dies überlegte, fand er aber doch, daß es einer Flucht vor dem Schwierigen allzu ähnlich sein würde. So klug und richtig es sein mochte, dem Freunde eine Szene und Aufregung und eine Gelegenheit zu Torheiten zu ersparen, so wenig durfte er sich selbst eine solche Schonung gönnen. Es war noch eine halbe Stunde bis zur Zeit der Nachtruhe, er konnte Tegularius noch aufsuchen, ohne ihn oder sonst jemanden zu stören. Es war schon Nacht auf dem weiten Innenhofe, den er überschritt. Er klopfte an seines Freundes Zelle, mit dem eigentümlichen Gefühl: zum letztenmal, und fand ihn allein. Erfreut begrüßte ihn der beim Lesen Überraschte, legte sein Buch beiseite und hieß den Besucher sitzen.

»Ein altes Gedicht ist mir heute eingefallen,« fing Knecht zu plaudern an, »oder doch einige Verse daraus. Vielleicht weißt du, wo das Ganze zu finden ist?«

Und er zitierte: »Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…«

Der Repetent brauchte sich nicht lange zu bemühen. Er erkannte das Gedicht nach kurzem Nachdenken wieder, stand auf und holte aus einem Pultfach das Manuskript von Knechts Gedichten, die Urhandschrift, welche dieser ihm einst geschenkt hatte. Er suchte darin und zog zwei Blätter heraus, welche die erste Niederschrift des Gedichtes trugen. Er reichte sie dem Magister hin.

»Hier,« sagte er lächelnd, »der Ehrwürdige möge sich bedienen. Es ist das erstemal seit vielen Jahren, daß Ihr Euch dieser Dichtungen zu erinnern geruhet.«

Josef Knecht betrachtete die Blätter aufmerksam und nicht ohne Bewegung. Als Student, während seines Aufenthaltes im ostasiatischen Studienhaus, hatte er diese beiden Blätter einst mit Verszeilen beschrieben, eine ferne Vergangenheit blickte ihn aus ihnen an, alles sprach von einem beinahe vergessenen, nun mahnend und schmerzlich wieder erwachenden Ehemals, das schon leicht angegilbte Papier, die jugendliche Handschrift, die Streichungen und Korrekturen im Texte. Er meinte sich nicht nur des Jahres und der Jahreszelt zu erinnern, in welchen diese Verse entstanden waren, sondern auch des Tages und der Stunde, und zugleich jener Stimmung, jenes starken und stolzen Gefühls, das ihn damals erfüllt und beglückt hatte und dem die Verse Ausdruck gaben. Er hatte sie an einem jener besonderen Tage geschrieben, an welchen das seelische Erlebnis ihm zuteil geworden war, das er Erwachen nannte.

Sichtlich war die Oberschrift des Gedichtes, noch vor dem Gedichte selbst, als dessen erste Zeile entstanden. Mit großen Buchstaben in stürmischer Handschrift war sie hingesetzt und lautete:

»Transzendieren!«

Später erst, zu einer anderen Zeit, in anderer Stimmung und Lebenslage, war diese Überschrift samt dem Ausrufezeichen gestrichen und war in kleineren, dünneren, bescheideneren Schriftzeichen dafür eine andere hingeschrieben worden. Sie hieß: »Stufen.«

Knecht erinnerte sich jetzt wieder, wie er damals, vom Gedanken seines Gedichtes beschwingt, das Wort »Transzendieren!« hingeschrieben hatte, als einen Zuruf und Befehl, eine Mahnung an sich selbst, als einen neu formulierten und bekräftigten Vorsatz, sein Tun und Leben unter dies Zeichen zu stellen und es zu einem Transzendieren, einem entschlossen-heitern Durchschreiten, Erfüllen und Hintersichlassen jedes Raumes, jeder Wegstrecke zu machen. Halblaut las er einige Strophen vor sich hin:

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.

»Ich hatte die Verse viele Jahre vergessen,« sagte er, »und als einer von ihnen mir heute zufällig einfiel, wußte ich nicht mehr, woher ich ihn kenne und daß er von mir sei. Wie kommen sie dir heute vor? Sagen sie dir noch etwas?«

Tegularius besann sich.

»Mir ist es gerade mit diesem Gedicht immer eigentümlich gegangen,« sagte er dann. »Das Gedicht gehört zu den wenigen von Euch, die ich eigentlich nicht mochte, an denen irgend etwas mich abstieß oder störte. Was es sei, wußte ich damals nicht. Heute glaube ich es zu sehen. Euer Gedicht, Verehrter, das Ihr mit dem Marschbefehl »Transzendieren!« überschrieben und dessen Titel Ihr später, Gott sei Dank, durch einen sehr viel besseren ersetzt habet, hat mir nie so recht gefallen, weil es etwas Befehlendes, etwas Moralisierendes oder Schulmeisterliches hat. Könnte man ihm dieses Element nehmen oder vielmehr diese Tünche abwaschen, so wäre es eines Eurer schönsten Gedichte, das habe ich soeben wieder bemerkt. Sein eigentlicher Inhalt ist mit dem Titel »Stufen« nicht schlecht angedeutet; Ihr hättet aber ebensogut und noch besser »Musik« oder, »Wesen der Musik« darüber schreiben können. Denn nach Abzug jener moralisierenden oder predigenden Haltung ist es recht eigentlich eine Betrachtung über das Wesen der Musik, oder meinetwegen ein Lobgesang auf die Musik, auf ihre stete Gegenwärtigkeit, auf ihre Heiterkeit und Entschlossenheit, auf ihre Beweglichkeit und rastlose Entschlossenheit und Bereitschaft zum Weitereilen, zum Verlassen des eben erst betretenen Raumes oder Raumabschnittes. Wäre es bei dieser Betrachtung oder diesem Lobgesang über den Geist der Musik geblieben, hättet Ihr nicht, offenbar schon damals von einem Erzieherehrgeiz beherrscht, eine Mahnung und Predigt daraus gemacht, so könnte das Gedicht ein vollkommenes Kleinod sein. So wie es vorliegt, scheint es mir nicht nur zu lehrhaft, zu lehrerhaft, sondern es scheint mir auch an einem Denkfehler zu kranken. Es setzt, lediglich der moralischen Wirkung wegen, Musik und Leben einander gleich, was mindestens sehr fragwürdig und bestreitbar ist, es macht aus dem natürlichen und moralfreien Motor, der die Triebfeder der Musik ist, ein »Leben,« das uns durch Zurufe, Befehle und gute Lehren erziehen und entwickeln will. Kurz, es wird in diesem Gedicht eine Vision, etwas Einmaliges, Schönes und Großartiges zu Lehrzwecken verfälscht und ausgenutzt, und dies ist es, was mich schon immer dagegen eingenommen hat.«

Mit Vergnügen hatte der Magister zugehört und den Freund sich in eine gewisse zornige Wärme hineinreden sehen, die er an ihm gern hatte.

»Möchtest du recht haben!« sagte er halb scherzhaft. »Du hast es jedenfalls mit dem, was du über die Beziehung des Gedichtes zur Musik sagst. Das »Durchschreiten der Räume« und der Grundgedanke meiner Verse kommt, ohne daß ich es wußte oder beachtete, in der Tat von der Musik her. Ob ich den Gedanken verdorben und die Vision verfälscht habe, weiß ich nicht; vielleicht hast du recht. Als ich die Verse machte, handelten sie ja schon nicht mehr von der Musik, sondern von einem Erlebnis, dem Erlebnis nämlich, daß das schöne musikalische Gleichnis mir seine moralische Seite gezeigt hatte und zur Weckung und Mahnung, zum Lebensruf in mir geworden war. Die imperative Form des Gedichtes, die dir besonders mißfällt, ist nicht Ausdruck eines Befehlen- und Belehrenwollens, denn der Befehl, die Mahnung ist nur an mich selbst gerichtet. Das hättest du, auch wenn du es nicht ohnehin recht wohl wüßtest, aus der letzten Verszeile sehen können, mein Bester. Also ich habe eine Einsicht, eine Erkenntnis, ein inneres Gesicht erlebt und möchte den Gehalt und die Moral dieser Einsicht mir selber zurufen und einhämmern. Darum ist das Gedicht mir auch, obwohl ich es nicht wußte, im Gedächtnis geblieben. Mögen diese Verse nun gut oder schlecht sein, ihren Zweck haben sie also erreicht, die Mahnung hat in mir fortgelebt und ist nicht vergessen worden. Heute klingt sie mir wieder wie neu; das ist ein schönes kleines Erlebnis, dein Spott kann es mir nicht verderben. Aber es ist Zeit aufzubrechen. Wie schön waren jene Zeiten, Kamerad, wo wir, beide Studenten, es uns des öftern erlauben durften, die Hausordnung zu umgehen und bis tief in die Nächte hinein im Gespräch beisammenzubleiben. Als Magister darf man das nicht mehr, schade!«

»Ach,« meinte Tegularius, »man dürfte schon, man hat nur die Courage nicht.«

Knecht legte ihm lachend die Hand auf die Schulter.

»Was die Courage betrifft, mein Lieber, da wäre ich noch zu ganz anderen Streichen fähig. Gute Nacht, alter Nörgler!«

Fröhlich verließ er die Zelle, unterwegs jedoch in den nächtlich leeren Gängen und Höfen der Siedlung kam der Ernst ihm wieder, der Ernst des Abschieds. Abschiednehmen weckt stets Erinnerungsbilder, und ihn suchte auf diesem Gange die Erinnerung an jenes erste Mal heim, da er, noch ein Knabe, als neu eingerückter Waldzeller Schüler seinen ersten ahnungs- und hoffnungsvollen Gang durch Waldzell und den Vicus Lusorum getan hatte, und nun erst, inmitten der nachtkühlen schweigenden Bäume und Gebäude, spürte er durchdringend und schmerzlich, daß er dies alles nun zum letztenmal vor Augen habe, zum letztenmal dem Stillwerden und Einschlummern der tagsüber so belebten Siedlung lausche, zum letztenmal das kleine Licht überm Pförtnerhaus sich im Brunnenbecken spiegeln, zum letztenmal das Nachtgewölk über die Bäume seines Magistergartens ziehen sehe. Er schritt langsam alle Wege und Winkel des Spielerdorfes ab, fühlte ein Verlangen, noch einmal die Pforte zu seinem Garten zu öffnen und einzutreten, doch hatte er den Schlüssel nicht bei sich, das half ihm rasch zur Ernüchterung und Rückbesinnung. Er kehrte in seine Wohnung zurück, schrieb noch einige Briefe, darunter eine Ankündigung seines Eintreffens an Designori in die Hauptstadt, dann befreite er sich in sorgfältiger Meditation von den Seelenwallungen dieser Stunde, um morgen stark zu sein für seine letzte Arbeit in Kastalien, die Aussprache mit dem Ordensleiter.

Zur gewohnten Stunde erhob sich der Magister andern Morgens, bestellte den Wagen und fuhr davon, nur wenige bemerkten seine Abreise, niemand dachte sich etwas dabei. Durch den von ersten Frühherbstnebeln getränkten Morgen fuhr er nach Hirsland, kam gegen Mittag an und ließ sich beim Magister Alexander, dem Vorstande der Ordensleitung, melden. Bei sich trug er, in ein Tuch geschlagen, ein schönes metallenes Kästchen, das er aus einem Geheimfach seiner Kanzlei mitgenommen hatte und das die Insignien seiner Würde, die Siegel und Schlüssel, enthielt.

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