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Der Grad an Freiheit und Selbstbestimmung, mit welchem der Eliteschüler nach der Entlassung aus den vorbereitenden Schulen sich allen Wissens- und Forschungsgebieten gegenübergestellt findet, ist in der Tat ein sehr hoher. Eingeschränkt wird diese Freiheit, soweit nicht die Begabungen und Interessen von Anfang an engere sind, lediglich durch die Verpflichtung jedes frei Studierenden zur Vorlage eines Studienplanes jeweils für ein Halbjahr, dessen Durchführung von den Behörden milde überwacht wird. Für die vielseitig Begabten und Interessierten – und zu ihnen gehörte Knecht – haben die paar ersten Studienjahre durch diese sehr weitgehende Freiheit etwas wunderbar Verlockendes und Entzückendes. Gerade diesen vielseitig Interessierten läßt die Behörde, wenn sie nicht etwa geradezu ins Bummeln geraten, eine beinahe paradiesische Freiheit; der Schüler mag nach Belieben sich in allen Wissenschaften umsehen, die verschiedensten Studiengebiete miteinander vermischen, sich in sechs oder acht Wissenschaften gleichzeitig verlieben oder von Anfang an sich an eine engere Auswahl halten; außer der Innehaltung der allgemeinen, für Provinz und Orden geltenden moralischen Lebensregeln wird nichts von ihm verlangt als jährlich einmal der Ausweis über die von ihm gehörten Vorlesungen, über seine Lektüre und seine Arbeit in Instituten. Die genauere Kontrolle und Prüfung seiner Leistungen beginnt erst dort, wo er fachwissenschaftliche Kurse und Seminare besucht, zu welchen auch die des Glasperlenspiels und der Musikhochschule gehören; hier freilich hat jeder Studierende sich den offiziellen Prüfungen zu stellen und die vom Seminarleiter verlangten Arbeiten zu leisten, wie es sich von selbst versteht. Aber niemand zwingt ihn in diese Kurse, er kann semesterlang und jahrelang nach Belieben auch nur in den Bibliotheken sitzen und Vorlesungen hören. Diese Studenten, die mit der Bindung an ein einzelnes Wissensgebiet sich lange Zeit lassen, zögern zwar damit ihre Aufnahme in den Orden hinaus, werden aber mit großer Duldung auf ihren Streifzügen durch alle möglichen Wissenschaften und Studienarten belassen, ja gefördert. Es wird von ihnen, außer dem moralischen Wohlverhalten, nichts an Leistung verlangt als jedes Jahr die Abfassung eines »Lebenslaufes.« Diese alte und oft bespöttelte Sitte ist es, der wir die drei während seiner Studienjahre geschriebenen Lebensläufe Knechts verdanken. Es handelt sich bei ihnen also nicht, wie bei den in Waldzell entstandenen Gedichten, um eine rein freiwillige und inoffizielle, ja heimliche und mehr oder weniger verbotene Art von literarischer Tätigkeit, sondern um eine normale und offizielle. Schon in den frühesten Zeiten der pädagogischen Provinz war die Sitte aufgekommen, die jungem Studierenden, das heißt die noch nicht in den Orden Aufgenommenen, je und je zur Abfassung einer besonderen Art von Aufsatz oder Stilübung anzuhalten, nämlich eines sogenannten »Lebenslaufes,« das heißt einer fiktiven, in eine beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie. Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner frühern Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken; je nach Zeit und Mode war das kaiserliche Rom, das Frankreich des siebzehnten oder das Italien des fünfzehnten Jahrhunderts, das perikleische Athen oder das Österreich der Mozartzeit bevorzugt, und bei den Philologen war es Sitte geworden, daß sie ihre Lebensromane in der Sprache und im Stil des Landes und der Zeit abfaßten, in welchen sie spielten; es gab zuzeiten höchst virtuose Lebensläufe im Kurialstil des päpstlichen Rom um das Jahr 1200, im Mönchslatein, im Italienisch der »Hundert Novellen,« im Französisch Montaignes, im Barockdeutsch des Schwans von Boberfeld. Es lebte ein Rest des alten asiatischen Wiedergeburts- und Seelenwanderungsglaubens in dieser freien und spielerischen Form hier fort; allen Lehrern und Schülern war die Vorstellung geläufig, daß ihrer jetzigen Existenz frühere vorangegangen sein könnten, in anderen Körpern, zu andern Zeiten, unter andern Bedingungen. Dies war nun freilich nicht etwa ein Glaube im strengen Sinn, noch viel weniger war es eine Lehre; es war eine Übung, ein Spiel der Imaginationskräfte, sich das eigene Ich in veränderten Lagen und Umgebungen vorzustellen. Man übte sich dabei, so wie man es in vielen stilkritischen Seminaren und so oft auch im Glasperlenspiele tat, im behutsamen Eindringen in vergangene Kulturen, Zeiten und Länder, lernte seine eigene Person als Maske, als vergängliches Kleid einer Entelechie betrachten. Die Sitte, solche Lebensläufe zu schreiben, hatte ihren Reiz und hatte manche Vorzüge, sie hätte sich sonst wohl auch nicht so lange erhalten. Übrigens war die Zahl der Studierenden gar nicht so sehr klein, welche nicht nur an die Idee der Reinkarnation mehr oder weniger glaubten, sondern auch an die Wahrheit ihrer eigenen erfundenen Lebensläufe. Denn natürlich waren die meisten dieser imaginierten Vorexistenzen nicht nur Stilübungen und historische Studien, sondern auch Wunschbilder und gesteigerte Selbstbildnisse: die Verfasser der meisten Lebensläufe schilderten sich in demjenigen Kostüm und als denjenigen Charakter, als welcher zu erscheinen und sich zu verwirklichen ihr Wunsch und Ideal war. Des weiteren waren die Lebensläufe, pädagogisch kein schlechter Gedanke, ein legitimer Kanal für das dichterische Bedürfnis des jugendlichen Alters. War auch seit Generationen das eigentliche, ernsthafte Dichten verpönt und teils durch die Wissenschaften, teils durch das Glasperlenspiel ersetzt, so war doch der Künstler- und Gestaltungstrieb des Jugendalters nicht erledigt; er fand in den Lebensläufen, welche sich oft bis zu kleinen Romanen erweiterten, ein erlaubtes Feld der Betätigung. Auch mochte mancher Verfasser dabei die ersten Schritte ins Land der Selbsterkenntnis tun. Übrigens kam es auch des öfteren vor und stieß bei den Lehrern meistens auf wohlwollendes Verständnis, daß Studierende ihre Lebensläufe zu kritischen und revolutionären Auslassungen über die heutige Welt und über Kastalien benutzten. Außerdem aber waren diese Aufsätze für die Lehrer gerade während der Zeit, in welcher die Studierenden die größte Freiheit genossen und keiner genauen Kontrolle unterlagen, sehr aufschlußreich und gaben ihnen über das geistige und moralische Leben und Befinden der Verfasser oft überraschend deutliche Auskunft.

Von Josef Knecht sind drei solche Lebensläufe erhalten, wir werden sie wortgetreu mitteilen und halten sie für den vielleicht wertvollsten Teil unseres Buches. Ob er nur diese drei Lebensläufe geschrieben habe, ob nicht einer oder der andere verlorengegangen sei, darüber sind mancherlei Vermutungen möglich. Mit Bestimmtheit wissen wir nur, daß es Knecht nach der Überreichung seines dritten, des »indischen« Lebenslaufes von der Kanzlei der Erziehungsbehörde nahegelegt wurde, er möge einen etwaigen noch folgenden Lebenslauf in eine historisch näherliegende und reicher dokumentierte Epoche verlegen und sich mehr um das historische Detail bekümmern. Wir wissen aus Erzählungen und Briefen, daß er daraufhin in der Tat Vorstudien zu einem Lebenslauf aus dem achtzehnten Jahrhundert gemacht hat. Er wollte darin als schwäbischer Theologe auftreten, der den Kirchendienst später mit der Musik vertauscht, der ein Schüler Johann Albrecht Bengels, ein Freund Oetingers und eine Weile Gast der Gemeinde Zinzendorfs war. Wir wissen, daß er damals eine Menge alter, zum Teil entlegener Literatur über Kirchenverfassung, über Pietismus und Zinzendorf, über Liturgie und Kirchenmusik jener Zeit gelesen und exzerpiert hat. Wir wissen auch, daß er für die Gestalt des magischen Prälaten Oetinger eine richtige Verliebtheit, für die des Magisters Bengel eine echte Liebe und tiefe Verehrung empfand – sein Bildnis ließ er sich eigens photographieren und hatte es eine Weile auf dem Schreibtisch stehen – und sich um die Würdigung Zinzendorfs, der ihn ebenso interessierte wie abstieß, ehrlich bemüht hat. Am Ende ließ er diese Arbeit liegen, zufrieden mit dem, was er bei ihr gelernt hatte, erklärte sich aber für unfähig, daraus einen Lebenslauf zu machen, denn er habe viel zuviel Einzelstudien getrieben und Details gesammelt. Diese Aussage berechtigt uns vollends, in jenen ausgeführten drei Lebensläufen mehr die Schöpfungen und Bekenntnisse eines dichterischen Menschen und eines edlen Charakters als die Arbeiten eines Gelehrten zu sehen, womit wir ihnen nicht Unrecht zu tun meinen.

Für Knecht kam nun aber zu der Freiheit des in die selbstgewählten Studien entlassenen Schülers noch eine andere Freiheit und Entspannung hinzu. Er war ja nicht nur ein Zögling wie alle gewesen, hatte nicht nur die Ordnung der strengen Schulung, der genauen Tageseinteilung, der sorgfältigen Kontrolle und Beobachtung durch die Lehrer über sich gehabt und war allen Anstrengungen eines Eliteschülers ausgesetzt gewesen. Er war, neben diesem allem und weit darüber hinaus, durch sein Verhältnis zu Plinio zum Träger einer Rolle und einer Verantwortung geworden, die ihn geistig und seelisch bis an die Grenzen des Möglichen teils anspornte, teils belastete, einer aktiven sowohl wie repräsentativen Rolle, einer Verantwortung, welche eigentlich über seine Jahre und Kräfte ging und welche er, oft gefährdet genug, nur aus einem Überschuß an Willenskraft und Begabung bewältigt hatte und ohne den mächtigen Beistand aus der Ferne, den Musikmeister, überhaupt nicht hätte zu Ende führen können. Wir finden ihn, den etwa Vierundzwanzigjährigen, am Ende seiner ungewöhnlichen Waldzeller Schuljahre zwar über sein Alter gereift und etwas überanstrengt, erstaunlicherweise aber nicht erkennbar geschädigt. Wie tief dennoch sein ganzes Wesen durch jene Rolle und Last in Anspruch genommen, ja der Erschöpfung nahegebracht worden war, darüber fehlt es zwar an unmittelbaren Zeugnissen, wir erkennen es aber, sobald wir die Art betrachten, auf welche der den Schulen Entwachsene in den ersten Jahren von der errungenen und gewiß oft tief ersehnten Freiheit Gebrauch gemacht hat. Knecht, der während seiner letzten Schülerjahre an so sichtbarer Stelle gestanden und gewissermaßen schon der Öffentlichkeit angehört hatte, hat sich aus ihr sofort und vollkommen zurückgezogen; ja wenn man die Spuren seines damaligen Lebens aufsucht, hat man den Eindruck: am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, keine Umgebung und Gesellschaft konnte ihm harmlos genug, keine Existenzform privat genug sein. So hat er auch auf einige lange und stürmische Briefe Designoris erst kurz und unlustig, dann gar nicht mehr geantwortet. Der berühmte Schüler Knecht verschwand und war nicht mehr aufzufinden; nur in Waldzell blühte sein Ruhm weiter und wurde mit der Zeit beinah zur Legende.

So hat er im Beginn seiner Studienjahre aus den genannten Gründen Waldzell gemieden, daraus ergab sich denn auch der vorläufige Verzicht auf die höheren und höchsten Kurse im Glasperlenspiel. Trotzdem aber, das heißt obwohl ein oberflächlicher Beobachter damals eine auffallende Vernachlässigung des Glasperlenspiels bei Knecht hätte feststellen können, wissen wir, daß im Gegenteil der ganze, scheinbar launische und zusammenhanglose, jedenfalls recht ungewöhnliche Gang seiner freien Studien vom Glasperlenspiel beeinflußt war und zu ihm und dem Dienst am Spiel zurückführte. Wir gehen darauf etwas ausführlicher ein, denn dieser Zug ist charakteristisch; Josef Knecht hat auf die wunderlichste, eigensinnigste Weise sich seiner Studierfreiheit bedient, auf eine verblüffende, jugendlich geniale Weise. Während seiner Waldzeller Jahre hatte er wie üblich die offizielle Einführung ins Glasperlenspiel und den Wiederholungskurs durchgemacht; dann war er, im Lauf des letzten Schuljahres und im Freundeskreis schon damals im Ruf eines guten Spielers stehend, von der Anziehungskraft des Spiels der Spiele mit solcher Heftigkeit ergriffen worden, daß er, nach Absolvierung eines weiteren Kurses, noch als Eliteschüler unter die Spieler der zweiten Stufe aufgenommen wurde, was eine recht seltene Auszeichnung bedeutet.

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