Einem Kameraden beim offiziellen Wiederholungskurs, seinem Freunde und spätem Gehilfen Fritz Tegularius, hat er einige Jahre später ein Erlebnis berichtet, das nicht nur seine Bestimmung zum Glasperlenspieler entschied, sondern auch auf den Gang seiner Studien von größtem Einfluß war. Der Brief ist erhalten, die Stelle lautet: »Laß mich dich aus jener Zeit, wo wir beide, derselben Gruppe zugeteilt, so eifrig an unsern ersten Dispositionen zu Glasperlenspielen arbeiteten, an einen bestimmten Tag und ein bestimmtes Spiel erinnern. Unser Gruppenleiter hatte uns verschiedene Anregungen gegeben und allerlei Themata zur Wahl gestellt; wir waren gerade bei dem heiklen Übergang von der Astronomie, Mathematik und Physik zu den Sprach- und Geschichtswissenschaften, und der Leiter war ein Virtuose in der Kunst, uns begierigen Anfängern Fallen zu stellen und uns auf das Glatteis unzulässiger Abstraktionen und Analogien zu locken, er schmuggelte uns verlockende etymologische und sprachvergleichende Spielereien in die Hände und hatte seinen Spaß daran, wenn einer von uns darauf hereinfiel. Wir zählten griechische Silbenlängen bis zur Ermüdung, um dann plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen, indem wir vor die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines akzentuierenden, statt des metrischen Skandierens gestellt wurden, und dergleichen mehr. Er machte seine Sache formal glänzend und ganz korrekt, wenn auch in einem Geist, der mir nicht angenehm war, er zeigte uns Irrgänge und verlockte uns zu Fehlspekulationen, zwar mit der guten Absicht, uns mit den Gefahren bekannt zu machen, aber ein wenig auch, um uns dumme Jungen auszulachen und gerade den Eifrigsten möglichst viel Skepsis in ihre Begeisterung zu gießen. Dennoch geschah es gerade unter ihm und bei einem seiner verzwickten Vexier-Experimente, daß ich, während wir tastend und ängstlich ein halbwegs taugliches Spielproblem zu entwerfen versuchten, plötzlich und mit einem Schlage vom Sinn und von der Größe unsres Spiels ergriffen und bis ins Innerste erschüttert wurde. Wir sezierten an einem sprachgeschichtlichen Problem herum und sahen gewissermaßen dem Höhepunkt und der Glanzzeit einer Sprache aus der Nähe zu, gingen in Minuten einen Weg mit ihr, zu dem sie einige Jahrhunderte gebraucht hatte, und mich packte das Schauspiel der Vergänglichkeit gewaltig an: wie da vor unsern Augen ein so komplizierter, alter, ehrwürdiger, in vielen Generationen langsam aufgebauter Organismus zu seiner Blüte kommt, und die Blüte schon den Keim des Verfalls enthält, und der ganze sinnvoll gegliederte Bau zu sinken, zu entarten, dem Untergang entgegenzuwanken beginnt – und zugleich durchfuhr es mich mit einem Zuck und freudigen Schrecken, daß dennoch der Verfall und Tod jener Sprache nicht ins Nichts geführt hatte, daß ihre Jugend, ihre Blüte, ihr Niedergang in unserem Gedächtnis, im Wissen um sie und ihre Geschichte, aufbewahrt und daß sie in den Zeichen und Formeln der Wissenschaft sowohl wie in den geheimen Formulierungen des Glasperlenspiels fortlebe und jederzeit wieder aufgebaut werden könne. Ich begriff plötzlich, daß in der Sprache oder doch mindestens im Geist des Glasperlenspiels tatsächlich alles allbedeutend sei, daß jedes Symbol und jede Kombination von Symbolen nicht hierhin oder dorthin, nicht zu einzelnen Beispielen, Experimenten und Beweisen führe, sondern ins Zentrum, ins Geheimnis und Innerste der Welt, in das Urwissen. Jeder Übergang von Dur zu Moll in einer Sonate, jede Wandlung eines Mythos oder eines Kultes, jede klassische, künstlerische Formulierung sei, so erkannte ich im Blitz jenes Augenblicks, bei echter meditativer Betrachtung, nichts andres als ein unmittelbarer Weg ins Innere des Weltgeheimnisses, wo im Hin und Wider zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Yin und Yang sich ewig das Heilige vollzieht. Zwar hatte ich damals schon manches gut aufgebaute und gut durchgeführte Spiel als Zuhörer miterlebt, und es war mir manche große Erhebung und manche beglückende Einsicht dabei zuteil geworden; doch war ich bis dahin über den eigentlichen Wert und Rang des Spieles an sich immer wieder zu Zweifeln geneigt gewesen. Am Ende konnte ja jede gut gelöste Mathematikaufgabe geistigen Genuß bringen, jede gute Musik konnte beim Hören, und noch weit mehr beim Spielen, die Seele erheben und ins Große dehnen, und jede andächtige Meditation konnte das Herz beruhigen und es zum Einklang mit dem All stimmen; aber eben darum war doch vielleicht das Glasperlenspiel, so sagten meine Zweifel, nur eine formale Kunst, eine geistreiche Fertigkeit, eine witzige Kombination, und dann war es besser, dies Spiel nicht zu spielen, sondern sich mit sauberer Mathematik und guter Musik zu beschäftigen. Jetzt aber hatte ich zum erstenmal die innere Stimme des Spieles selbst vernommen, seinen Sinn, sie hatte mich erreicht und durchdrungen, und seit jener Stunde bin ich des Glaubens, daß unser königliches Spiel wirklich eine lingua sacra, eine heilige und göttliche Sprache ist. Du wirst dich erinnern, denn du selbst hast damals bemerkt, daß eine Wandlung in mir vorgegangen war und ein Ruf mich erreicht hatte. Ich kann ihn nur jenem unvergeßlichen Ruf vergleichen, der einst mein Herz und mein Leben verwandelt und emporgehoben hat, da ich als kleiner Knabe vom Magister Musicae geprüft und nach Kastalien berufen worden bin. Du hast es bemerkt, das spürte ich damals wohl, wenn du auch kein Wort darüber sagtest; wir wollen auch heute nichts weiter darüber sagen. Aber nun habe ich eine Bitte an dich, und um sie dir zu erklären, muß ich dir sagen, was sonst niemand weiß und wissen soll, nämlich, daß mein derzeitiges Herumstudieren keiner Laune entspringt, daß ihm vielmehr ein ganz bestimmter Plan zugrunde liegt. Du entsinnst dich, in großen Zügen wenigstens, jener Glasperlenspielübung, die wir damals als Schüler im dritten Kurs mit Hilfe des Leiters aufbauten und in deren Verlauf ich jene Stimme vernahm und meine Berufung zum Lusor erlebte. Nun, jenes Übungsspiel, das mit einer rhythmischen Analyse des Themas zu einer Fuge begann und in dessen Mitte ein angeblicher Satz des Kungtse stand, jenes ganze Spiel von Anfang bis zu Ende studiere ich jetzt, das heißt, ich arbeite mich durch jeden seiner Sätze durch, übersetze ihn aus der Spielsprache in seine Ursprache zurück, in Mathematik, in Ornamentik, in Chinesisch, in Griechisch usw. Ich will, wenigstens dies eine Mal im Leben, den ganzen Inhalt eines Glasperlenspiels fachmäßig nachstudieren und nachkonstruieren; den ersten Teil habe ich schon hinter mir und habe zwei Jahre dazu gebraucht. Es wird natürlich noch manche Jahre kosten. Aber da wir nun einmal unsre berühmte Studienfreiheit in Kastalien haben, will ich sie eben auf diese Art benützen. Die Einwände dagegen sind mir bekannt. Die meisten unsrer Lehrer würden sagen: wir haben in einigen Jahrhunderten das Glasperlenspiel erfunden und ausgebaut, als eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrücken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen. Nun kommst du und willst nachprüfen, ob das auch stimme! Du wirst dein Leben dazu brauchen und wirst es bereuen. Nun, ich werde nicht mein Leben dazu brauchen und hoffe es auch nicht zu bereuen. Und nun meine Bitte: da du zur Zeit im Spielarchiv arbeitest und ich aus besonderen Gründen Waldzell noch für eine gute Weile meiden möchte, sollst du mir je und je eine Anzahl Fragen beantworten, das heißt, mir in der nicht gekürzten Form jeweils die offiziellen Schlüssel und Zeichen für allerlei Themata aus dem Archiv mitteilen. Ich rechne auf dich und rechne darauf, daß du, sobald ich dir irgendwelche Gegendienste leisten kann, über mich verfügst.«
Vielleicht ist hier der Ort, auch jene andre Stelle aus Knechts Briefen mitzuteilen, welche sich auf das Glasperlenspiel bezieht, wenn auch der betreffende Brief, an den Musikmeister gerichtet, mindestens ein oder zwei Jahre später geschrieben wurde. »Ich denke mir,« schreibt Knecht seinem Gönner, »daß man ein ganz guter, ja virtuoser Glasperlenspieler sein kann, ja vielleicht sogar ein recht tüchtiger Magister Ludi, ohne das eigentliche Geheimnis des Spieles und seinen letzten Sinn zu ahnen. Ja es könnte sein, daß gerade ein Ahnender und Wissender, wenn er zum Fachmann im Glasperlenspiel oder dessen Leiter würde, dem Spiel gefährlicher werden könnte als jene. Denn die Innenseite, die Esoterik des Spiels, zielt wie alle Esoterik ins Ein und All hinab, in die Tiefen, wo nur noch der ewige Atem im ewigen Ein und Aus sich selbst genügend waltet. Wer den Sinn des Spiels in sich zu Ende erlebt hätte, wäre eigentlich schon kein Spieler mehr, er stünde nicht in der Vielfalt mehr und wäre der Freude am Erfinden, Konstruieren und Kombinieren nicht mehr fähig, da er eine ganz andere Lust und Freude kennt. Da ich dem Sinn des Glasperlenspiels nahe zu sein meine, wird es für mich und für andre besser sein, wenn ich das Spiel nicht zu meinem Beruf mache, sondern mich lieber auf die Musik verlege.«
Der Musikmeister, meist sehr sparsam im Briefschreiben, war von dieser Äußerung offenbar beunruhigt und hat auf sie eine freundlich warnende Auskunft gegeben: »Es ist gut, daß du selber von einem Spielmeister nicht verlangst, er solle ein »Esoteriker« in deinem Sinne sein, denn ich hoffe, du habest das ohne Ironie gesagt. Ein Spielmeister oder Lehrer, der sich in erster Linie darum sorgte, ob er auch dem »innersten Sinn« nahe genug sei, wäre ein sehr schlechter Lehrer. Ich zum Beispiel habe, offen gestanden, meinen Schülern zeitlebens niemals ein Wort über den »Sinn« der Musik gesagt; wenn es einen gibt, so bedarf er meiner nicht. Dagegen habe ich stets großen Wert darauf gelegt, daß meine Schüler ihre Achtel und Sechzehntel hübsch genau zählten. Ob du nun Lehrer, Gelehrter oder Musikant wirst, habe die Ehrfurcht vor dem »Sinn,« aber halte ihn nicht für lehrbar. Mit dem Lehrenwollen des »Sinnes« haben einst die Geschichtsphilosophen die halbe Weltgeschichte verdorben, das feuilletonistische Zeitalter eingeleitet und eine Menge von vergossenem Blut mitverschuldet. Auch wenn ich etwa Schüler in den Homer oder die griechischen Tragiker einzuführen hätte, würde ich nicht versuchen, ihnen die Dichtung als eine Erscheinungsform des Göttlichen zu suggerieren, sondern bemüht sein, ihnen die Dichtung durch die genaue Kenntnis ihrer sprachlichen und metrischen Mittel zugänglich zu machen. Sache des Lehrers und des Gelehrten ist das Erforschen der Mittel und die Pflege der Überlieferung, das Reinhalten der Methoden, nicht das Erregen und Beschleunigen jener nicht mehr sagbaren Erlebnisse, welche den Auserwählten – oft sind sie auch Geschlagene und Opfer – vorbehalten sind.«
Im übrigen erwähnt Knechts Briefwechsel jener Jahre, der ohnehin nicht groß gewesen zu sein scheint oder zum Teil verlorengegangen ist, das Glasperlenspiel und seine »esoterische« Auffassung an keiner Stelle; die größte und besterhaltene dieser Korrespondenzen, die mit Ferromonte, handelt ohnehin nahezu ausschließlich von Problemen der Musik und der musikalischen Stilanalyse.